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Waiblinger, Wilhelm: Phaëthon. Bd. 2. Stuttgart, 1823.

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ben ist es. Darum kann auch das Thier nicht
sterblich seyn. Und wär' es nicht eben so ungerecht
von der Gottheit, das Thier im Verhältniß zu uns
in ewiger Niedrigkeit zu halten, als es ungerecht
wäre, unser Sehnen nach Gottähnlichkeit nicht zu
stillen? Das Leben bildet sich allmählig zum
Geist herauf, das Thier zum Menschen, der
Mensch zur Einung mit Gott, dem Geiste,
der alle Geister in sich aufnimmt.

Die Seele entsteht durchaus nicht erst, wenn
der Körper entsteht. Jm Mutterschooß kann zwar
wieder etwas Körperliches, Organisches entstehen,
aber nichts Geistiges, Einfaches sich bilden. Denn
wie könnte das Geistige aus dem Körperlichen ent-
springen? Und überhaupt kann ja das Geistige
nicht entstehen, weil es die Bewegung nicht von
Aussen erhält.

Die Seele stammt von Gott. Aus einem uns
unbekannten Grunde, vielleicht zur Strafe, bekam
sie die Hülle des Körpers. Darum sehnt sie sich
ewig wieder nach der Gottheit. Jhr höchstes Stre-
ben ist, zusammenzuschwimmen mit ihr.

Gott selbst aber ist so wenig zu beschreiben, als
die Schönheit. Jeder Begriff von ihm ist ein Un-

ben iſt es. Darum kann auch das Thier nicht
ſterblich ſeyn. Und waͤr’ es nicht eben ſo ungerecht
von der Gottheit, das Thier im Verhaͤltniß zu uns
in ewiger Niedrigkeit zu halten, als es ungerecht
waͤre, unſer Sehnen nach Gottaͤhnlichkeit nicht zu
ſtillen? Das Leben bildet ſich allmaͤhlig zum
Geiſt herauf, das Thier zum Menſchen, der
Menſch zur Einung mit Gott, dem Geiſte,
der alle Geiſter in ſich aufnimmt.

Die Seele entſteht durchaus nicht erſt, wenn
der Koͤrper entſteht. Jm Mutterſchooß kann zwar
wieder etwas Koͤrperliches, Organiſches entſtehen,
aber nichts Geiſtiges, Einfaches ſich bilden. Denn
wie koͤnnte das Geiſtige aus dem Koͤrperlichen ent-
ſpringen? Und uͤberhaupt kann ja das Geiſtige
nicht entſtehen, weil es die Bewegung nicht von
Auſſen erhaͤlt.

Die Seele ſtammt von Gott. Aus einem uns
unbekannten Grunde, vielleicht zur Strafe, bekam
ſie die Huͤlle des Koͤrpers. Darum ſehnt ſie ſich
ewig wieder nach der Gottheit. Jhr hoͤchſtes Stre-
ben iſt, zuſammenzuſchwimmen mit ihr.

Gott ſelbſt aber iſt ſo wenig zu beſchreiben, als
die Schoͤnheit. Jeder Begriff von ihm iſt ein Un-

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[55/0055] ben iſt es. Darum kann auch das Thier nicht ſterblich ſeyn. Und waͤr’ es nicht eben ſo ungerecht von der Gottheit, das Thier im Verhaͤltniß zu uns in ewiger Niedrigkeit zu halten, als es ungerecht waͤre, unſer Sehnen nach Gottaͤhnlichkeit nicht zu ſtillen? Das Leben bildet ſich allmaͤhlig zum Geiſt herauf, das Thier zum Menſchen, der Menſch zur Einung mit Gott, dem Geiſte, der alle Geiſter in ſich aufnimmt. Die Seele entſteht durchaus nicht erſt, wenn der Koͤrper entſteht. Jm Mutterſchooß kann zwar wieder etwas Koͤrperliches, Organiſches entſtehen, aber nichts Geiſtiges, Einfaches ſich bilden. Denn wie koͤnnte das Geiſtige aus dem Koͤrperlichen ent- ſpringen? Und uͤberhaupt kann ja das Geiſtige nicht entſtehen, weil es die Bewegung nicht von Auſſen erhaͤlt. Die Seele ſtammt von Gott. Aus einem uns unbekannten Grunde, vielleicht zur Strafe, bekam ſie die Huͤlle des Koͤrpers. Darum ſehnt ſie ſich ewig wieder nach der Gottheit. Jhr hoͤchſtes Stre- ben iſt, zuſammenzuſchwimmen mit ihr. Gott ſelbſt aber iſt ſo wenig zu beſchreiben, als die Schoͤnheit. Jeder Begriff von ihm iſt ein Un-

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Zitationshilfe: Waiblinger, Wilhelm: Phaëthon. Bd. 2. Stuttgart, 1823, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/waiblinger_phaeton02_1823/55>, abgerufen am 26.04.2024.