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Wedekind, Frank: Frühlings Erwachen. Zürich, 1891.

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weil er so ganz deinem genialischen Naturell entspricht. Sei
stärker als du! Zeig' dich deinem Sohn gegenüber endlich einmal
selbstlos!
Frau Gabor. Hilf mir Gott, wie läßt sich dagegen auf-
kommen! -- Man muß ein Mann sein, um so sprechen zu
können! Man muß ein Mann sein, um sich so vom todten
Buchstaben verblenden lassen zu können! Man muß ein Mann
sein, um so blind das in die Augen Springende nicht zu seh'n! --
Ich habe gewissenhaft und besonnen an Melchior gehandelt vom
ersten Tag an, da ich ihn für die Eindrücke seiner Umgebung
empfänglich fand. Sind wir denn für den Zufall verant-
wortlich! Dir kann morgen ein Dachziegel auf den Kopf fallen,
und dann kommt dein Freund -- dein Vater, und statt deine
Wunde zu pflegen, setzt er den Fuß auf dich! -- Ich lasse mein
Kind nicht vor meinen Augen hinmorden. Dafür bin ich seine
Mutter. -- Es ist unfaßbar! Es ist gar nicht zu glauben! Was
schreibt er denn in aller Welt! Ist's denn nicht der stupendeste
Beweis für seine Harmlosigkeit, für seine Dummheit, für seine
kindliche Unberührtheit, daß er so etwas schreiben kann! -- Man
muß keine Ahnung von Menschenkenntniß besitzen -- man muß
ein vollständig entseelter Bureaukrat oder ganz nur Beschränktheit
sein, um hier moralische Corruption zu wittern! -- -- Sag'
was du willst. Wenn du Melchior in die Correctionsanstalt
bringst, dann sind wir geschieden! Und dann laß mich sehen,
ob ich nicht irgendwo in der Welt Hülfe und Mittel finde, mein
Kind seinem Untergang zu entreißen.
Herr Gabor. Du wirst dich drein schicken müssen --
wenn nicht heute dann morgen. Leicht wird es keinem, mit dem
Unglück zu discontiren. Ich werde dir zur Seite stehen, und
wenn dein Muth zu erliegen droht, keine Mühe und kein Opfer
scheuen, dir das Herz zu entlasten. Ich sehe die Zukunft so
grau, so wolkig -- es fehlte nur noch, daß auch du mir verloren gingst.
weil er ſo ganz deinem genialiſchen Naturell entſpricht. Sei
ſtärker als du! Zeig' dich deinem Sohn gegenüber endlich einmal
ſelbſtlos!
Frau Gabor. Hilf mir Gott, wie läßt ſich dagegen auf-
kommen! — Man muß ein Mann ſein, um ſo ſprechen zu
können! Man muß ein Mann ſein, um ſich ſo vom todten
Buchſtaben verblenden laſſen zu können! Man muß ein Mann
ſein, um ſo blind das in die Augen Springende nicht zu ſeh'n! —
Ich habe gewiſſenhaft und beſonnen an Melchior gehandelt vom
erſten Tag an, da ich ihn für die Eindrücke ſeiner Umgebung
empfänglich fand. Sind wir denn für den Zufall verant-
wortlich! Dir kann morgen ein Dachziegel auf den Kopf fallen,
und dann kommt dein Freund — dein Vater, und ſtatt deine
Wunde zu pflegen, ſetzt er den Fuß auf dich! — Ich laſſe mein
Kind nicht vor meinen Augen hinmorden. Dafür bin ich ſeine
Mutter. — Es iſt unfaßbar! Es iſt gar nicht zu glauben! Was
ſchreibt er denn in aller Welt! Iſt's denn nicht der ſtupendeſte
Beweis für ſeine Harmloſigkeit, für ſeine Dummheit, für ſeine
kindliche Unberührtheit, daß er ſo etwas ſchreiben kann! — Man
muß keine Ahnung von Menſchenkenntniß beſitzen — man muß
ein vollſtändig entſeelter Bureaukrat oder ganz nur Beſchränktheit
ſein, um hier moraliſche Corruption zu wittern! — — Sag'
was du willſt. Wenn du Melchior in die Correctionsanſtalt
bringſt, dann ſind wir geſchieden! Und dann laß mich ſehen,
ob ich nicht irgendwo in der Welt Hülfe und Mittel finde, mein
Kind ſeinem Untergang zu entreißen.
Herr Gabor. Du wirſt dich drein ſchicken müſſen —
wenn nicht heute dann morgen. Leicht wird es keinem, mit dem
Unglück zu discontiren. Ich werde dir zur Seite ſtehen, und
wenn dein Muth zu erliegen droht, keine Mühe und kein Opfer
ſcheuen, dir das Herz zu entlaſten. Ich ſehe die Zukunft ſo
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Zitationshilfe: Wedekind, Frank: Frühlings Erwachen. Zürich, 1891, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wedekind_erwachen_1891/80>, abgerufen am 29.04.2024.