Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wieland, Christoph Martin: Oberon. Weimar, 1780.

Bild:
<< vorherige Seite
27.
Wer hätte dazumal gedacht,
Daß wir nach achtzehn jahren in wilden felsengründen
Auf Libanon uns würden wiederfinden?
Verzweifle keiner je, dem in der trübsten nacht
Der hoffnung lezte sterne schwinden!
Doch, herr, verzeyht daß mich die freude schwazhaft macht.
Laßt mich vielmehr vor allen dingen fragen,
Was für ein sturmwind euch in dieses land verschlagen?
28.
Herr Hüon läßt auf einem sitz von moos
Beym feuerheerd sich mit dem Alten nieder,
Und als er drauf die reisemüden glieder
Mit einem trunk, so frisch er aus dem felsen floß,
Und etwas honigseim und trocknen datteln gestärket,
Beginnt er seine geschichte dem wirth erzählen, der sich
Nicht satt an ihm sehen kann, und stets noch was bemerket
Worinn sein vor'ger herr dem jungen ritter glich.
29.
Der Ritter erzählt, nach art der lieben jugend,
Ein wenig breit: wie seine Frau Mutter ihn
Bey hofe (dem wahren ort um Prinzen zu erziehn)
Gar fleißig zu guter lehr und ritterlicher tugend
Erzogen; wie schnell der kindheit lieblicher traum
Vorübergeflogen; und wie, sobald ihm etwas pflaum
Durchs kinn gestochen, man ihn zu Bourdeaux, von den stufen
Des schlosses, mit großem pomp, zum herzog ausgerufen.
30. Und
27.
Wer haͤtte dazumal gedacht,
Daß wir nach achtzehn jahren in wilden felſengruͤnden
Auf Libanon uns wuͤrden wiederfinden?
Verzweifle keiner je, dem in der truͤbſten nacht
Der hoffnung lezte ſterne ſchwinden!
Doch, herr, verzeyht daß mich die freude ſchwazhaft macht.
Laßt mich vielmehr vor allen dingen fragen,
Was fuͤr ein ſturmwind euch in dieſes land verſchlagen?
28.
Herr Huͤon laͤßt auf einem ſitz von moos
Beym feuerheerd ſich mit dem Alten nieder,
Und als er drauf die reiſemuͤden glieder
Mit einem trunk, ſo friſch er aus dem felſen floß,
Und etwas honigſeim und trocknen datteln geſtaͤrket,
Beginnt er ſeine geſchichte dem wirth erzaͤhlen, der ſich
Nicht ſatt an ihm ſehen kann, und ſtets noch was bemerket
Worinn ſein vor'ger herr dem jungen ritter glich.
29.
Der Ritter erzaͤhlt, nach art der lieben jugend,
Ein wenig breit: wie ſeine Frau Mutter ihn
Bey hofe (dem wahren ort um Prinzen zu erziehn)
Gar fleißig zu guter lehr und ritterlicher tugend
Erzogen; wie ſchnell der kindheit lieblicher traum
Voruͤbergeflogen; und wie, ſobald ihm etwas pflaum
Durchs kinn geſtochen, man ihn zu Bourdeaux, von den ſtufen
Des ſchloſſes, mit großem pomp, zum herzog ausgerufen.
30. Und
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <lg type="poem">
            <pb facs="#f0018"/>
            <lg n="27">
              <head> <hi rendition="#c">27.</hi> </head><lb/>
              <l><hi rendition="#in">W</hi>er ha&#x0364;tte dazumal gedacht,</l><lb/>
              <l>Daß wir nach achtzehn jahren in wilden fel&#x017F;engru&#x0364;nden</l><lb/>
              <l>Auf Libanon uns wu&#x0364;rden wiederfinden?</l><lb/>
              <l>Verzweifle keiner je, dem in der tru&#x0364;b&#x017F;ten nacht</l><lb/>
              <l>Der hoffnung lezte &#x017F;terne &#x017F;chwinden!</l><lb/>
              <l>Doch, herr, verzeyht daß mich die freude &#x017F;chwazhaft macht.</l><lb/>
              <l>Laßt mich vielmehr vor allen dingen fragen,</l><lb/>
              <l>Was fu&#x0364;r ein &#x017F;turmwind euch in die&#x017F;es land ver&#x017F;chlagen?</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="28">
              <head> <hi rendition="#c">28.</hi> </head><lb/>
              <l><hi rendition="#in">H</hi>err Hu&#x0364;on la&#x0364;ßt auf einem &#x017F;itz von moos</l><lb/>
              <l>Beym feuerheerd &#x017F;ich mit dem Alten nieder,</l><lb/>
              <l>Und als er drauf die rei&#x017F;emu&#x0364;den glieder</l><lb/>
              <l>Mit einem trunk, &#x017F;o fri&#x017F;ch er aus dem fel&#x017F;en floß,</l><lb/>
              <l>Und etwas honig&#x017F;eim und trocknen datteln ge&#x017F;ta&#x0364;rket,</l><lb/>
              <l>Beginnt er &#x017F;eine ge&#x017F;chichte dem wirth erza&#x0364;hlen, der &#x017F;ich</l><lb/>
              <l>Nicht &#x017F;att an ihm &#x017F;ehen kann, und &#x017F;tets noch was bemerket</l><lb/>
              <l>Worinn &#x017F;ein vor'ger herr dem jungen ritter glich.</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="29">
              <head> <hi rendition="#c">29.</hi> </head><lb/>
              <l><hi rendition="#in">D</hi>er Ritter erza&#x0364;hlt, nach art der lieben jugend,</l><lb/>
              <l>Ein wenig breit: wie &#x017F;eine Frau Mutter ihn</l><lb/>
              <l>Bey hofe (dem wahren ort um Prinzen zu erziehn)</l><lb/>
              <l>Gar fleißig zu guter lehr und ritterlicher tugend</l><lb/>
              <l>Erzogen; wie &#x017F;chnell der kindheit lieblicher traum</l><lb/>
              <l>Voru&#x0364;bergeflogen; und wie, &#x017F;obald ihm etwas pflaum</l><lb/>
              <l>Durchs kinn ge&#x017F;tochen, man ihn zu Bourdeaux, von den &#x017F;tufen</l><lb/>
              <l>Des &#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;es, mit großem pomp, zum herzog ausgerufen.</l>
            </lg><lb/>
            <fw place="bottom" type="catch">30. Und</fw><lb/>
          </lg>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0018] 27. Wer haͤtte dazumal gedacht, Daß wir nach achtzehn jahren in wilden felſengruͤnden Auf Libanon uns wuͤrden wiederfinden? Verzweifle keiner je, dem in der truͤbſten nacht Der hoffnung lezte ſterne ſchwinden! Doch, herr, verzeyht daß mich die freude ſchwazhaft macht. Laßt mich vielmehr vor allen dingen fragen, Was fuͤr ein ſturmwind euch in dieſes land verſchlagen? 28. Herr Huͤon laͤßt auf einem ſitz von moos Beym feuerheerd ſich mit dem Alten nieder, Und als er drauf die reiſemuͤden glieder Mit einem trunk, ſo friſch er aus dem felſen floß, Und etwas honigſeim und trocknen datteln geſtaͤrket, Beginnt er ſeine geſchichte dem wirth erzaͤhlen, der ſich Nicht ſatt an ihm ſehen kann, und ſtets noch was bemerket Worinn ſein vor'ger herr dem jungen ritter glich. 29. Der Ritter erzaͤhlt, nach art der lieben jugend, Ein wenig breit: wie ſeine Frau Mutter ihn Bey hofe (dem wahren ort um Prinzen zu erziehn) Gar fleißig zu guter lehr und ritterlicher tugend Erzogen; wie ſchnell der kindheit lieblicher traum Voruͤbergeflogen; und wie, ſobald ihm etwas pflaum Durchs kinn geſtochen, man ihn zu Bourdeaux, von den ſtufen Des ſchloſſes, mit großem pomp, zum herzog ausgerufen. 30. Und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_oberon_1780
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_oberon_1780/18
Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Oberon. Weimar, 1780, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_oberon_1780/18>, abgerufen am 27.04.2024.