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Wieland, Christoph Martin: Oberon. Weimar, 1780.

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39.
Zwölf knappen tragen sie, in schwarzen flor vermummet,
Die hohen stufen hinan, und wer sie sieht verstummet
Und steht erstarrt. Sie nehmen ihren lauf
Dem saale zu; die thüren springen auf:
Da tragen zwölf gespenster eine baare,
Mit blutgen linnen bedeckt, bis mitten in den saal.
Der Kayser erblaßt, uns allen stehn die haare
Zu berg, und mich trifts wie ein wetterstrahl.
40.
Indem tritt Amory hervor, hebt von der leiche
Das blut'ge tuch, und -- sieh! ruft er dem Kayser zu,
"Da ist dein sohn! und hier der frevler, der dem reiche
Und dir die wunde schlug, der mörder unsrer ruh!
Weh mir! ich kam zu spät dazu!
Sich nichts versehend fiel dein Scharlot im gesträuche,
Durch meuchelmord, nicht wie in ofnem feld
Von rittershand ein ritterlicher held."
41.
Soviel verdruß dem alten herrn auch täglich
Sein böser sohn gebracht, so blieb er doch sein sohn,
Sein fleisch und blut. Erst stand er unbeweglich,
Dann schrie er laut vor schmerz, mein sohn! mein sohn!
Und warf sich in verzweiflung neben
Den leichnam hin. Mir war der bange vaterton
Ein dolch ins herz; ich hätt' um Scharlots leben
In diesem augenblick mein bestes blut gegeben.
42. Herr
39.
Zwoͤlf knappen tragen ſie, in ſchwarzen flor vermummet,
Die hohen ſtufen hinan, und wer ſie ſieht verſtummet
Und ſteht erſtarrt. Sie nehmen ihren lauf
Dem ſaale zu; die thuͤren ſpringen auf:
Da tragen zwoͤlf geſpenſter eine baare,
Mit blutgen linnen bedeckt, bis mitten in den ſaal.
Der Kayſer erblaßt, uns allen ſtehn die haare
Zu berg, und mich trifts wie ein wetterſtrahl.
40.
Indem tritt Amory hervor, hebt von der leiche
Das blut'ge tuch, und — ſieh! ruft er dem Kayſer zu,
„Da iſt dein ſohn! und hier der frevler, der dem reiche
Und dir die wunde ſchlug, der moͤrder unſrer ruh!
Weh mir! ich kam zu ſpaͤt dazu!
Sich nichts verſehend fiel dein Scharlot im geſtraͤuche,
Durch meuchelmord, nicht wie in ofnem feld
Von rittershand ein ritterlicher held.“
41.
Soviel verdruß dem alten herrn auch taͤglich
Sein boͤſer ſohn gebracht, ſo blieb er doch ſein ſohn,
Sein fleiſch und blut. Erſt ſtand er unbeweglich,
Dann ſchrie er laut vor ſchmerz, mein ſohn! mein ſohn!
Und warf ſich in verzweiflung neben
Den leichnam hin. Mir war der bange vaterton
Ein dolch ins herz; ich haͤtt' um Scharlots leben
In dieſem augenblick mein beſtes blut gegeben.
42. Herr
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[0022] 39. Zwoͤlf knappen tragen ſie, in ſchwarzen flor vermummet, Die hohen ſtufen hinan, und wer ſie ſieht verſtummet Und ſteht erſtarrt. Sie nehmen ihren lauf Dem ſaale zu; die thuͤren ſpringen auf: Da tragen zwoͤlf geſpenſter eine baare, Mit blutgen linnen bedeckt, bis mitten in den ſaal. Der Kayſer erblaßt, uns allen ſtehn die haare Zu berg, und mich trifts wie ein wetterſtrahl. 40. Indem tritt Amory hervor, hebt von der leiche Das blut'ge tuch, und — ſieh! ruft er dem Kayſer zu, „Da iſt dein ſohn! und hier der frevler, der dem reiche Und dir die wunde ſchlug, der moͤrder unſrer ruh! Weh mir! ich kam zu ſpaͤt dazu! Sich nichts verſehend fiel dein Scharlot im geſtraͤuche, Durch meuchelmord, nicht wie in ofnem feld Von rittershand ein ritterlicher held.“ 41. Soviel verdruß dem alten herrn auch taͤglich Sein boͤſer ſohn gebracht, ſo blieb er doch ſein ſohn, Sein fleiſch und blut. Erſt ſtand er unbeweglich, Dann ſchrie er laut vor ſchmerz, mein ſohn! mein ſohn! Und warf ſich in verzweiflung neben Den leichnam hin. Mir war der bange vaterton Ein dolch ins herz; ich haͤtt' um Scharlots leben In dieſem augenblick mein beſtes blut gegeben. 42. Herr

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Oberon. Weimar, 1780, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_oberon_1780/22>, abgerufen am 26.04.2024.