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Wieland, Christoph Martin: Oberon. Weimar, 1780.

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47.
Sie fliegt dem lager zu, wo er
An Ihrer seite lag, und, wie vom bliz getroffen,
Schwankt sie zurük -- der Knab ist weg, das lager leer.
"Hat er sich aufgerafft? fand er die thüre offen
Und suchte Sie? O Gott! wenn er verunglükt wär'?
Entsezlich! -- Doch vielleicht hat um die hütte her
(So denkt sie zwischen angst und hoffen)
Vielleicht im garten nur der Kleine sich verlossen?
48.
Im garten? Ach! der ist nun felsichter Ruin!
Sie stürzt hinaus, und ruft mit bebenden lippen
Dem Knaben laut beym namen, suchet ihn
Ringsum, mit todesangst, in hölen und in klippen.
Der Vater, den ihr schreyn herbeygerufen, spricht
Umsonst den trost ihr zu woran's ihm selbst gebricht,
Er werde sich gewiß in diesen felsgewinden
Gesund und frisch auf einmal wiederfinden."
49.
Zwo stunden schon war alle ihre müh
Vergeblich. Ach! umsonst, lautrufend, irren sie
Tief im gebürg umher, besteigen alle spitzen,
Durchkriechen jeden busch und alle felsenritzen,
Und lassen sich, um wenigstens sein grab
Zu finden, kummervoll in jede kluft hinab:
Ach! keine spur von ihm entdekt sich ihrem blicke,
Und von den felsen hallt ihr eigner ton zurücke.
50. Das
47.
Sie fliegt dem lager zu, wo er
An Ihrer ſeite lag, und, wie vom bliz getroffen,
Schwankt ſie zuruͤk — der Knab iſt weg, das lager leer.
„Hat er ſich aufgerafft? fand er die thuͤre offen
Und ſuchte Sie? O Gott! wenn er verungluͤkt waͤr'?
Entſezlich! — Doch vielleicht hat um die huͤtte her
(So denkt ſie zwiſchen angſt und hoffen)
Vielleicht im garten nur der Kleine ſich verloſſen?
48.
Im garten? Ach! der iſt nun felſichter Ruin!
Sie ſtuͤrzt hinaus, und ruft mit bebenden lippen
Dem Knaben laut beym namen, ſuchet ihn
Ringsum, mit todesangſt, in hoͤlen und in klippen.
Der Vater, den ihr ſchreyn herbeygerufen, ſpricht
Umſonſt den troſt ihr zu woran's ihm ſelbſt gebricht,
Er werde ſich gewiß in dieſen felsgewinden
Geſund und friſch auf einmal wiederfinden.“
49.
Zwo ſtunden ſchon war alle ihre muͤh
Vergeblich. Ach! umſonſt, lautrufend, irren ſie
Tief im gebuͤrg umher, beſteigen alle ſpitzen,
Durchkriechen jeden buſch und alle felſenritzen,
Und laſſen ſich, um wenigſtens ſein grab
Zu finden, kummervoll in jede kluft hinab:
Ach! keine ſpur von ihm entdekt ſich ihrem blicke,
Und von den felſen hallt ihr eigner ton zuruͤcke.
50. Das
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[0240] 47. Sie fliegt dem lager zu, wo er An Ihrer ſeite lag, und, wie vom bliz getroffen, Schwankt ſie zuruͤk — der Knab iſt weg, das lager leer. „Hat er ſich aufgerafft? fand er die thuͤre offen Und ſuchte Sie? O Gott! wenn er verungluͤkt waͤr'? Entſezlich! — Doch vielleicht hat um die huͤtte her (So denkt ſie zwiſchen angſt und hoffen) Vielleicht im garten nur der Kleine ſich verloſſen? 48. Im garten? Ach! der iſt nun felſichter Ruin! Sie ſtuͤrzt hinaus, und ruft mit bebenden lippen Dem Knaben laut beym namen, ſuchet ihn Ringsum, mit todesangſt, in hoͤlen und in klippen. Der Vater, den ihr ſchreyn herbeygerufen, ſpricht Umſonſt den troſt ihr zu woran's ihm ſelbſt gebricht, Er werde ſich gewiß in dieſen felsgewinden Geſund und friſch auf einmal wiederfinden.“ 49. Zwo ſtunden ſchon war alle ihre muͤh Vergeblich. Ach! umſonſt, lautrufend, irren ſie Tief im gebuͤrg umher, beſteigen alle ſpitzen, Durchkriechen jeden buſch und alle felſenritzen, Und laſſen ſich, um wenigſtens ſein grab Zu finden, kummervoll in jede kluft hinab: Ach! keine ſpur von ihm entdekt ſich ihrem blicke, Und von den felſen hallt ihr eigner ton zuruͤcke. 50. Das

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Oberon. Weimar, 1780, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_oberon_1780/240>, abgerufen am 03.05.2024.