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Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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vor ihrer Abreise zu sehen, war eine Unmöglichkeit; ihr Vater, das wußte sie, würde ohne sie nicht aus dem Hause gehen. Und doch mußte er wissen, wie es mit ihr stand, er mußte ihr beistehen, wenn irgend ein Beistand noch nöthig war. Sie konnte ihn nicht sehen, aber schreiben konnte sie.

Es giebt keine Rettung, schrieb sie ihm, ich muß mit meinem Vater nach S. Mit wie schwerem Herzen ich gehe, kann ich nicht sagen; ach, ich hatte so ganz anders geträumt! Unternehmen Sie nichts -- ich schreibe ihnen von S. aus, so bald es sich thun lässt. Zweifeln Sie nicht an mir. O Louis, wir haben uns nur gefunden, um uns wieder zu verlieren, wenn Sie nur nicht ganz vertrauen. Louis, Louis, Sie sind Alles für mich!

Sie läutete ihrer Kammerfrau und übergab ihr den Brief.

Niemand darf wissen, daß ich geschrieben, sagte sie. Die Dienerin sah sie überrascht an, aber vor diesen verweinten Augen, nach dem Auftritt, den sie eben mit angesehen, wie sollte da ein Verdacht möglich sein?

Wenn Louis mich wahrhaft liebt, dachte Leonie, so wird er sehen, das ich nicht anders handeln kann. Und er liebte sie, ebenso, mehr vielleicht, als er sie jemals geliebt. Bei aller Angst und Qual, war das nicht ein tiefer Trank der Seligkeit?

Der Marquis war zu Hause, als ihre Botschaft kam. Er hielt den Brief in den Händen und zauderte, ihn zu öffnen. Es war das Schicksal seines Lebens, daß an diesem leichten Blättchen hing. Alle Zweifel, die ihn in letzter Zeit gemartert, tauchten von Neuem in seiner Seele auf. Sein Herz schlug, sein Kopf schwindelte, und er mußte sich setzen. Erst nach langem Zögern erbrach er das Siegel.

O warum sind wir nicht gleich geflohen! war sein erster Gedanke, nachdem er gelesen; und doch mußte er sich gestehen, daß er glücklich, überglücklich gegen die

vor ihrer Abreise zu sehen, war eine Unmöglichkeit; ihr Vater, das wußte sie, würde ohne sie nicht aus dem Hause gehen. Und doch mußte er wissen, wie es mit ihr stand, er mußte ihr beistehen, wenn irgend ein Beistand noch nöthig war. Sie konnte ihn nicht sehen, aber schreiben konnte sie.

Es giebt keine Rettung, schrieb sie ihm, ich muß mit meinem Vater nach S. Mit wie schwerem Herzen ich gehe, kann ich nicht sagen; ach, ich hatte so ganz anders geträumt! Unternehmen Sie nichts — ich schreibe ihnen von S. aus, so bald es sich thun lässt. Zweifeln Sie nicht an mir. O Louis, wir haben uns nur gefunden, um uns wieder zu verlieren, wenn Sie nur nicht ganz vertrauen. Louis, Louis, Sie sind Alles für mich!

Sie läutete ihrer Kammerfrau und übergab ihr den Brief.

Niemand darf wissen, daß ich geschrieben, sagte sie. Die Dienerin sah sie überrascht an, aber vor diesen verweinten Augen, nach dem Auftritt, den sie eben mit angesehen, wie sollte da ein Verdacht möglich sein?

Wenn Louis mich wahrhaft liebt, dachte Leonie, so wird er sehen, das ich nicht anders handeln kann. Und er liebte sie, ebenso, mehr vielleicht, als er sie jemals geliebt. Bei aller Angst und Qual, war das nicht ein tiefer Trank der Seligkeit?

Der Marquis war zu Hause, als ihre Botschaft kam. Er hielt den Brief in den Händen und zauderte, ihn zu öffnen. Es war das Schicksal seines Lebens, daß an diesem leichten Blättchen hing. Alle Zweifel, die ihn in letzter Zeit gemartert, tauchten von Neuem in seiner Seele auf. Sein Herz schlug, sein Kopf schwindelte, und er mußte sich setzen. Erst nach langem Zögern erbrach er das Siegel.

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[0182] vor ihrer Abreise zu sehen, war eine Unmöglichkeit; ihr Vater, das wußte sie, würde ohne sie nicht aus dem Hause gehen. Und doch mußte er wissen, wie es mit ihr stand, er mußte ihr beistehen, wenn irgend ein Beistand noch nöthig war. Sie konnte ihn nicht sehen, aber schreiben konnte sie. Es giebt keine Rettung, schrieb sie ihm, ich muß mit meinem Vater nach S. Mit wie schwerem Herzen ich gehe, kann ich nicht sagen; ach, ich hatte so ganz anders geträumt! Unternehmen Sie nichts — ich schreibe ihnen von S. aus, so bald es sich thun lässt. Zweifeln Sie nicht an mir. O Louis, wir haben uns nur gefunden, um uns wieder zu verlieren, wenn Sie nur nicht ganz vertrauen. Louis, Louis, Sie sind Alles für mich! Sie läutete ihrer Kammerfrau und übergab ihr den Brief. Niemand darf wissen, daß ich geschrieben, sagte sie. Die Dienerin sah sie überrascht an, aber vor diesen verweinten Augen, nach dem Auftritt, den sie eben mit angesehen, wie sollte da ein Verdacht möglich sein? Wenn Louis mich wahrhaft liebt, dachte Leonie, so wird er sehen, das ich nicht anders handeln kann. Und er liebte sie, ebenso, mehr vielleicht, als er sie jemals geliebt. Bei aller Angst und Qual, war das nicht ein tiefer Trank der Seligkeit? Der Marquis war zu Hause, als ihre Botschaft kam. Er hielt den Brief in den Händen und zauderte, ihn zu öffnen. Es war das Schicksal seines Lebens, daß an diesem leichten Blättchen hing. Alle Zweifel, die ihn in letzter Zeit gemartert, tauchten von Neuem in seiner Seele auf. Sein Herz schlug, sein Kopf schwindelte, und er mußte sich setzen. Erst nach langem Zögern erbrach er das Siegel. O warum sind wir nicht gleich geflohen! war sein erster Gedanke, nachdem er gelesen; und doch mußte er sich gestehen, daß er glücklich, überglücklich gegen die

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T13:30:48Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T13:30:48Z)

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Zitationshilfe: Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910/182>, abgerufen am 29.04.2024.