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Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Überwurf, der über ihre Schultern fiel, aber Niemand beachtete sie.

Der Graf hatte die letzten Worte fast tonlos gesprochen, seine Brauen zogen sich krampfhaft zusammen, und er legte den strengen, gramgebleichten Kopf mit geschlossenen Augen an die Lehne seines Sessels zurück. Louis sah starr vor sich nieder, er wagte kaum zu athmen, und auf seiner Stirne perlte kalter Schweiß.

Nach einer Pause fuhr der Graf fort, indem er sich mit Anstrengung aufrichtete:

Es ist nun Alles längst vorüber. Aber, junger Mann, Gott bewahre Sie davor, daß Sie je erfahren, was ich damals erfuhr. Sie wissen nicht, was es heißt, vor seinem liebsten, heiligsten Gut zu stehen und sich sagen zu müssen: es ist nicht dein, es war längst nicht mehr dein! Als du noch liebtest und glaubtest, standest du schon längst an dem Sarge deines Glücks.

Nun -- ich las den Brief ruhig -- sehr ruhig -- es war, als ginge er mich gar nicht an. Ich las ihn dreimal, bevor ich ihn verstand. Da erst packte mich die Verzweiflung und mit der Verzweiflung zugleich unnennbare Wuth. Aber tobten wollte ich sie nicht -- sie war noch immer die Mutter meines Otto das Weib, das ich so lang und innig geliebt! -- nein, tödten konnte ich sie nicht!

Ich legte den Brief wieder hin und verließ das Gemach. In dem Nebenzimmer schliefen die Kinder, und dorthin wandte ich mich. Otto war ja noch mein, und zu ihm trieb es mich jetzt in dieser qualvollen Stunde. An der Wiege seiner Schwester blieb ich stehen und betrachtete das Kind. Es war ein kleines, schwächliches Ding, welches der Erde gar nicht anzugehören schien. Eine kleine Bewegung, ein leichter Druck hatte wenigstens diesen Makel auf ewig aus meinem Leben gelöscht. Meine Hand hob sich -- es dunkelte vor meinen Augen, der Haß in mir schrie laut nach Blut

Überwurf, der über ihre Schultern fiel, aber Niemand beachtete sie.

Der Graf hatte die letzten Worte fast tonlos gesprochen, seine Brauen zogen sich krampfhaft zusammen, und er legte den strengen, gramgebleichten Kopf mit geschlossenen Augen an die Lehne seines Sessels zurück. Louis sah starr vor sich nieder, er wagte kaum zu athmen, und auf seiner Stirne perlte kalter Schweiß.

Nach einer Pause fuhr der Graf fort, indem er sich mit Anstrengung aufrichtete:

Es ist nun Alles längst vorüber. Aber, junger Mann, Gott bewahre Sie davor, daß Sie je erfahren, was ich damals erfuhr. Sie wissen nicht, was es heißt, vor seinem liebsten, heiligsten Gut zu stehen und sich sagen zu müssen: es ist nicht dein, es war längst nicht mehr dein! Als du noch liebtest und glaubtest, standest du schon längst an dem Sarge deines Glücks.

Nun — ich las den Brief ruhig — sehr ruhig — es war, als ginge er mich gar nicht an. Ich las ihn dreimal, bevor ich ihn verstand. Da erst packte mich die Verzweiflung und mit der Verzweiflung zugleich unnennbare Wuth. Aber tobten wollte ich sie nicht — sie war noch immer die Mutter meines Otto das Weib, das ich so lang und innig geliebt! — nein, tödten konnte ich sie nicht!

Ich legte den Brief wieder hin und verließ das Gemach. In dem Nebenzimmer schliefen die Kinder, und dorthin wandte ich mich. Otto war ja noch mein, und zu ihm trieb es mich jetzt in dieser qualvollen Stunde. An der Wiege seiner Schwester blieb ich stehen und betrachtete das Kind. Es war ein kleines, schwächliches Ding, welches der Erde gar nicht anzugehören schien. Eine kleine Bewegung, ein leichter Druck hatte wenigstens diesen Makel auf ewig aus meinem Leben gelöscht. Meine Hand hob sich — es dunkelte vor meinen Augen, der Haß in mir schrie laut nach Blut

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[0198] Überwurf, der über ihre Schultern fiel, aber Niemand beachtete sie. Der Graf hatte die letzten Worte fast tonlos gesprochen, seine Brauen zogen sich krampfhaft zusammen, und er legte den strengen, gramgebleichten Kopf mit geschlossenen Augen an die Lehne seines Sessels zurück. Louis sah starr vor sich nieder, er wagte kaum zu athmen, und auf seiner Stirne perlte kalter Schweiß. Nach einer Pause fuhr der Graf fort, indem er sich mit Anstrengung aufrichtete: Es ist nun Alles längst vorüber. Aber, junger Mann, Gott bewahre Sie davor, daß Sie je erfahren, was ich damals erfuhr. Sie wissen nicht, was es heißt, vor seinem liebsten, heiligsten Gut zu stehen und sich sagen zu müssen: es ist nicht dein, es war längst nicht mehr dein! Als du noch liebtest und glaubtest, standest du schon längst an dem Sarge deines Glücks. Nun — ich las den Brief ruhig — sehr ruhig — es war, als ginge er mich gar nicht an. Ich las ihn dreimal, bevor ich ihn verstand. Da erst packte mich die Verzweiflung und mit der Verzweiflung zugleich unnennbare Wuth. Aber tobten wollte ich sie nicht — sie war noch immer die Mutter meines Otto das Weib, das ich so lang und innig geliebt! — nein, tödten konnte ich sie nicht! Ich legte den Brief wieder hin und verließ das Gemach. In dem Nebenzimmer schliefen die Kinder, und dorthin wandte ich mich. Otto war ja noch mein, und zu ihm trieb es mich jetzt in dieser qualvollen Stunde. An der Wiege seiner Schwester blieb ich stehen und betrachtete das Kind. Es war ein kleines, schwächliches Ding, welches der Erde gar nicht anzugehören schien. Eine kleine Bewegung, ein leichter Druck hatte wenigstens diesen Makel auf ewig aus meinem Leben gelöscht. Meine Hand hob sich — es dunkelte vor meinen Augen, der Haß in mir schrie laut nach Blut

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Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T13:30:48Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T13:30:48Z)

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Zitationshilfe: Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910/198>, abgerufen am 28.04.2024.