Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

wegs, und es schmeichelte ihm, das Leonie seine Tochter all ihren anderen Gefährtinnen vorzog. Marie selbst bewunderte ihre Freundin in einfacher Aufrichtigkeit und sprach es bei jeder Gelegenheit sehr ruhig und unumwunden aus. Sie war überhaupt ein einfaches, natürliches Wesen, diese Marie, offenbar ohne jede Koketterie, denn sie selbst war es jetzt gewesen, die ihre Freundin herangewinkt, obgleich sie in ihrem reichen Ballschmucke, dem die deutsche Mutterliebe alles mögliche Schöne aufgehängt, sich nicht zu ihrem Vortheil neben Leonie's duftigem weißem Gewande ausnahm, an dem nur hie und da eine Blumenknospe sich schüchtern wie die Trägerin aus dem unmuthigen Faltenwurfe hervorzustehlen schien. Doch war sie schon, viel schöner für die Menge als Leonie, frisch und blühend, mit dunklem Haar und wolkenlosen braunen Augen, die offen und verständig in die schöne Welt ihrer achtzehn Jahre hinaussahen.

Mit wem spricht dein Vater dort? sagte Leonie plötzlich mit bebender Stimme zu Marie, deren Aufmerksamkeit auf einen anderen Punkt gerichtet war.

O, versetzte diese, nachdem ihr Blick der Richtung von Leonie's Augen nach dem fernen Winkel des Saales gefolgt, wo ihr Vater mit einem jungen Manne sprach, der von ihnen abgewendet stand: das ist ein Emigrirter. Mein Vater hat seine Mutter in Frankreich gekannt, und er schwärmt noch immer für sie. Vor einigen Tagen erfuhr er, der Sohn befinde sich hier. Sogleich hat er ihn aufgesucht und ihn auch in Beschlag genommen, der alten Freundschaft zulieb. Seine Mutter muss wirklich eine vortreffliche Frau gewesen sein, und auch der Sohn ist ein ganz liebenswürdiger Mensch.

So? sagte Leonie.

Ja, und gut. Du kannst dir gar nicht denken, wie er diese Mutter liebt! Wäre es nicht rührend und schön, es könnte langweilig sein. Er hat auch nur

wegs, und es schmeichelte ihm, das Leonie seine Tochter all ihren anderen Gefährtinnen vorzog. Marie selbst bewunderte ihre Freundin in einfacher Aufrichtigkeit und sprach es bei jeder Gelegenheit sehr ruhig und unumwunden aus. Sie war überhaupt ein einfaches, natürliches Wesen, diese Marie, offenbar ohne jede Koketterie, denn sie selbst war es jetzt gewesen, die ihre Freundin herangewinkt, obgleich sie in ihrem reichen Ballschmucke, dem die deutsche Mutterliebe alles mögliche Schöne aufgehängt, sich nicht zu ihrem Vortheil neben Leonie's duftigem weißem Gewande ausnahm, an dem nur hie und da eine Blumenknospe sich schüchtern wie die Trägerin aus dem unmuthigen Faltenwurfe hervorzustehlen schien. Doch war sie schon, viel schöner für die Menge als Leonie, frisch und blühend, mit dunklem Haar und wolkenlosen braunen Augen, die offen und verständig in die schöne Welt ihrer achtzehn Jahre hinaussahen.

Mit wem spricht dein Vater dort? sagte Leonie plötzlich mit bebender Stimme zu Marie, deren Aufmerksamkeit auf einen anderen Punkt gerichtet war.

O, versetzte diese, nachdem ihr Blick der Richtung von Leonie's Augen nach dem fernen Winkel des Saales gefolgt, wo ihr Vater mit einem jungen Manne sprach, der von ihnen abgewendet stand: das ist ein Emigrirter. Mein Vater hat seine Mutter in Frankreich gekannt, und er schwärmt noch immer für sie. Vor einigen Tagen erfuhr er, der Sohn befinde sich hier. Sogleich hat er ihn aufgesucht und ihn auch in Beschlag genommen, der alten Freundschaft zulieb. Seine Mutter muss wirklich eine vortreffliche Frau gewesen sein, und auch der Sohn ist ein ganz liebenswürdiger Mensch.

So? sagte Leonie.

Ja, und gut. Du kannst dir gar nicht denken, wie er diese Mutter liebt! Wäre es nicht rührend und schön, es könnte langweilig sein. Er hat auch nur

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="2">
        <p><pb facs="#f0054"/>
wegs, und es schmeichelte ihm, das Leonie seine Tochter all ihren anderen      Gefährtinnen vorzog. Marie selbst bewunderte ihre Freundin in einfacher Aufrichtigkeit und      sprach es bei jeder Gelegenheit sehr ruhig und unumwunden aus. Sie war überhaupt ein einfaches,      natürliches Wesen, diese Marie, offenbar ohne jede Koketterie, denn sie selbst war es jetzt      gewesen, die ihre Freundin herangewinkt, obgleich sie in ihrem reichen Ballschmucke, dem die      deutsche Mutterliebe alles mögliche Schöne aufgehängt, sich nicht zu ihrem Vortheil neben      Leonie's duftigem weißem Gewande ausnahm, an dem nur hie und da eine Blumenknospe sich      schüchtern wie die Trägerin aus dem unmuthigen Faltenwurfe hervorzustehlen schien. Doch war sie      schon, viel schöner für die Menge als Leonie, frisch und blühend, mit dunklem Haar und      wolkenlosen braunen Augen, die offen und verständig in die schöne Welt ihrer achtzehn Jahre      hinaussahen.</p><lb/>
        <p>Mit wem spricht dein Vater dort? sagte Leonie plötzlich mit bebender Stimme zu Marie, deren      Aufmerksamkeit auf einen anderen Punkt gerichtet war.</p><lb/>
        <p>O, versetzte diese, nachdem ihr Blick der Richtung von Leonie's Augen nach dem fernen Winkel      des Saales gefolgt, wo ihr Vater mit einem jungen Manne sprach, der von ihnen abgewendet stand:      das ist ein Emigrirter. Mein Vater hat seine Mutter in Frankreich gekannt, und er schwärmt noch      immer für sie. Vor einigen Tagen erfuhr er, der Sohn befinde sich hier. Sogleich hat er ihn      aufgesucht und ihn auch in Beschlag genommen, der alten Freundschaft zulieb. Seine Mutter muss      wirklich eine vortreffliche Frau gewesen sein, und auch der Sohn ist ein ganz liebenswürdiger      Mensch.</p><lb/>
        <p>So? sagte Leonie.</p><lb/>
        <p>Ja, und gut. Du kannst dir gar nicht denken, wie er diese Mutter liebt! Wäre es nicht rührend      und schön, es könnte langweilig sein. Er hat auch nur<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0054] wegs, und es schmeichelte ihm, das Leonie seine Tochter all ihren anderen Gefährtinnen vorzog. Marie selbst bewunderte ihre Freundin in einfacher Aufrichtigkeit und sprach es bei jeder Gelegenheit sehr ruhig und unumwunden aus. Sie war überhaupt ein einfaches, natürliches Wesen, diese Marie, offenbar ohne jede Koketterie, denn sie selbst war es jetzt gewesen, die ihre Freundin herangewinkt, obgleich sie in ihrem reichen Ballschmucke, dem die deutsche Mutterliebe alles mögliche Schöne aufgehängt, sich nicht zu ihrem Vortheil neben Leonie's duftigem weißem Gewande ausnahm, an dem nur hie und da eine Blumenknospe sich schüchtern wie die Trägerin aus dem unmuthigen Faltenwurfe hervorzustehlen schien. Doch war sie schon, viel schöner für die Menge als Leonie, frisch und blühend, mit dunklem Haar und wolkenlosen braunen Augen, die offen und verständig in die schöne Welt ihrer achtzehn Jahre hinaussahen. Mit wem spricht dein Vater dort? sagte Leonie plötzlich mit bebender Stimme zu Marie, deren Aufmerksamkeit auf einen anderen Punkt gerichtet war. O, versetzte diese, nachdem ihr Blick der Richtung von Leonie's Augen nach dem fernen Winkel des Saales gefolgt, wo ihr Vater mit einem jungen Manne sprach, der von ihnen abgewendet stand: das ist ein Emigrirter. Mein Vater hat seine Mutter in Frankreich gekannt, und er schwärmt noch immer für sie. Vor einigen Tagen erfuhr er, der Sohn befinde sich hier. Sogleich hat er ihn aufgesucht und ihn auch in Beschlag genommen, der alten Freundschaft zulieb. Seine Mutter muss wirklich eine vortreffliche Frau gewesen sein, und auch der Sohn ist ein ganz liebenswürdiger Mensch. So? sagte Leonie. Ja, und gut. Du kannst dir gar nicht denken, wie er diese Mutter liebt! Wäre es nicht rührend und schön, es könnte langweilig sein. Er hat auch nur

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T13:30:48Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T13:30:48Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910/54
Zitationshilfe: Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910/54>, abgerufen am 27.04.2024.