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Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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sie gehabt, denn er war noch ein Kind, als sein Vater sich erschoß. O, es ist romantisch! Soll ich ihn rufen, damit du dir ihn ansehen kannst?

Ich? rief Leonie mit einem Tone so wahren Entsetzens, das Marie sie überrascht ansah.

Worüber erschrickst du denn so? frug sie dann.

O, du weißt, er wird glauben, daß es auf eine Einladung abgesehen ist, und ich bin so müde, das ich gar nicht mehr tanzen mag.

Marie brach in ein unterdrücktes Lachen ans. O, darüber brauchst du nicht zu erschrecken, sagte sie dann. Er tanzt nie, und es ist viel, daß er überhaupt gekommen ist; das habe ich ihm angethan. Einen Ball hält er, glaube ich, für eine Ausgeburt des Bösen, der die armen Menschen damit zur Sünde zu verlocken sucht. Ich bin überzeugt, er steht dort wie auf Nadeln -- du glaubst nicht, was für ein Sonderling er ist.

Er wird sich ändern, versetzte Leonie.

Die wird viel zu thun haben, die ihn kuriren will.

Unternimm du die Kur.

Ich habe schon angefangen, sagte Marie ganz unbefangen, aber ich glaube nicht, das es viel helfen wird, und ich bedauere die Frau, die er einmal kriegt.

Jetzt wurde Marie weggeholt, und Leonie lehnte sich auf ihren Sitz zurück. Sie schloß die Augen und suchte sich so viel als möglich von Allem abzuschließen, was um sie her vorging. Schwer wäre es, den Zustand zu schildern, in welchem ihre Seele während des leichten Gespräches mit ihrer Freundin sich befand. Das er ihr plötzlich so nahe war, das mit jedem Augenblick der kleinste Zufall ihn an ihre Seite führen konnte, ohne daß ihr Macht, es zu verhindern, gegeben war; daß sie seine Stimme hören würde, die sie nur ahnen konnte, wie süß sie war in ihrer allbezwingenden Gegenwart, das überfiel sie mit einem lähmenden Schrecken, in dessen tiefstem Grunde eine wilde Freude sich wider ihren Willen dämonenartig kund that. Wie eine Deu-

sie gehabt, denn er war noch ein Kind, als sein Vater sich erschoß. O, es ist romantisch! Soll ich ihn rufen, damit du dir ihn ansehen kannst?

Ich? rief Leonie mit einem Tone so wahren Entsetzens, das Marie sie überrascht ansah.

Worüber erschrickst du denn so? frug sie dann.

O, du weißt, er wird glauben, daß es auf eine Einladung abgesehen ist, und ich bin so müde, das ich gar nicht mehr tanzen mag.

Marie brach in ein unterdrücktes Lachen ans. O, darüber brauchst du nicht zu erschrecken, sagte sie dann. Er tanzt nie, und es ist viel, daß er überhaupt gekommen ist; das habe ich ihm angethan. Einen Ball hält er, glaube ich, für eine Ausgeburt des Bösen, der die armen Menschen damit zur Sünde zu verlocken sucht. Ich bin überzeugt, er steht dort wie auf Nadeln — du glaubst nicht, was für ein Sonderling er ist.

Er wird sich ändern, versetzte Leonie.

Die wird viel zu thun haben, die ihn kuriren will.

Unternimm du die Kur.

Ich habe schon angefangen, sagte Marie ganz unbefangen, aber ich glaube nicht, das es viel helfen wird, und ich bedauere die Frau, die er einmal kriegt.

Jetzt wurde Marie weggeholt, und Leonie lehnte sich auf ihren Sitz zurück. Sie schloß die Augen und suchte sich so viel als möglich von Allem abzuschließen, was um sie her vorging. Schwer wäre es, den Zustand zu schildern, in welchem ihre Seele während des leichten Gespräches mit ihrer Freundin sich befand. Das er ihr plötzlich so nahe war, das mit jedem Augenblick der kleinste Zufall ihn an ihre Seite führen konnte, ohne daß ihr Macht, es zu verhindern, gegeben war; daß sie seine Stimme hören würde, die sie nur ahnen konnte, wie süß sie war in ihrer allbezwingenden Gegenwart, das überfiel sie mit einem lähmenden Schrecken, in dessen tiefstem Grunde eine wilde Freude sich wider ihren Willen dämonenartig kund that. Wie eine Deu-

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T13:30:48Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T13:30:48Z)

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Zitationshilfe: Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910/55>, abgerufen am 28.04.2024.