Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

Stunde bei ihr einsprach, ja, er ist ein gutes -- ein sehr gutes Kind! Aber -- das Leben ist eine schwere Aufgabe -- ich wünschte, er hätte die rechte Kraft.

Einmal auch, nachdem sie lange geweint, hatte sie fast mit Heftigkeit seinen Kopf mit beiden Händen an sich gezogen. -- Brich nie ein Menschenherz -- es thut zu weh! hatte sie zu dem erstaunt aufschauenden Kinde gesagt, das sie nicht verstand. Sie sah ihn lange an und ließ ihn dann langsam und wie mit einem inneren Widerstreben los.

Alles das hatte auf das empfängliche Gemüth ihres Sohnes einen tiefen Eindruck gemacht, und schon früh entwickelte sich bei ihm der dunkle Begriff, seine Mutter leide unter irgend einem schweren, geheimnisvollen Schmerz, der ihm um so erhabener vorkam, als er sich vergebens dessen Ursache zu enträthseln suchte; und wenn der alte Pfarrer von Heiligen sprach, die mit Geduld ein Kreuz getragen, das doch gewöhnlichen Menschen unerträglich scheine, oder die ihr Leben einer hohen Pflicht der Menschlichkeit gewidmet, dann dachte er, daß seine Mutter wohl auch eine solche Heilige sei, nur wußten die Menschen nichts davon, weil es ein Geheimnis zwischen ihr und ihrem Schöpfer sei. So wurde still unter dem befruchtenden Einflusse einer glühenden Phantasie der Keim zu jenem Ascetismus in ihm gelegt, denn die katholische Kirche als die höchste Blüte menschlicher Vollkommenheit zu betrachten lehrt.

Seine Mutter sah es gern. Sie hatte sich jener religiösen Frömmigkeit ergeben, in welcher weiche Herzen so gern Heilung suchen, und die bei ihrem Charakter nie in unduldsame Härte übergehen konnte. Ihr heißester Wunsch war, ihren Sohn denselben Pfad wandeln zu sehen, der ihn vor den Schlingen der Welt bewahren sollte, an welchen ihr eigenes Glück gescheitert, und der so sicher zum Heil zu fuhren schien. Was ihr Balsam gewesen, warum sollte es nicht dem Unerfahrenen die sichere Rettung sein? Und sie überlegte nicht, ob nicht

Stunde bei ihr einsprach, ja, er ist ein gutes — ein sehr gutes Kind! Aber — das Leben ist eine schwere Aufgabe — ich wünschte, er hätte die rechte Kraft.

Einmal auch, nachdem sie lange geweint, hatte sie fast mit Heftigkeit seinen Kopf mit beiden Händen an sich gezogen. — Brich nie ein Menschenherz — es thut zu weh! hatte sie zu dem erstaunt aufschauenden Kinde gesagt, das sie nicht verstand. Sie sah ihn lange an und ließ ihn dann langsam und wie mit einem inneren Widerstreben los.

Alles das hatte auf das empfängliche Gemüth ihres Sohnes einen tiefen Eindruck gemacht, und schon früh entwickelte sich bei ihm der dunkle Begriff, seine Mutter leide unter irgend einem schweren, geheimnisvollen Schmerz, der ihm um so erhabener vorkam, als er sich vergebens dessen Ursache zu enträthseln suchte; und wenn der alte Pfarrer von Heiligen sprach, die mit Geduld ein Kreuz getragen, das doch gewöhnlichen Menschen unerträglich scheine, oder die ihr Leben einer hohen Pflicht der Menschlichkeit gewidmet, dann dachte er, daß seine Mutter wohl auch eine solche Heilige sei, nur wußten die Menschen nichts davon, weil es ein Geheimnis zwischen ihr und ihrem Schöpfer sei. So wurde still unter dem befruchtenden Einflusse einer glühenden Phantasie der Keim zu jenem Ascetismus in ihm gelegt, denn die katholische Kirche als die höchste Blüte menschlicher Vollkommenheit zu betrachten lehrt.

Seine Mutter sah es gern. Sie hatte sich jener religiösen Frömmigkeit ergeben, in welcher weiche Herzen so gern Heilung suchen, und die bei ihrem Charakter nie in unduldsame Härte übergehen konnte. Ihr heißester Wunsch war, ihren Sohn denselben Pfad wandeln zu sehen, der ihn vor den Schlingen der Welt bewahren sollte, an welchen ihr eigenes Glück gescheitert, und der so sicher zum Heil zu fuhren schien. Was ihr Balsam gewesen, warum sollte es nicht dem Unerfahrenen die sichere Rettung sein? Und sie überlegte nicht, ob nicht

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="3">
        <p><pb facs="#f0069"/>
Stunde bei ihr einsprach,      ja, er ist ein gutes &#x2014; ein sehr gutes Kind! Aber &#x2014; das Leben ist eine schwere Aufgabe &#x2014; ich      wünschte, er hätte die rechte Kraft.</p><lb/>
        <p>Einmal auch, nachdem sie lange geweint, hatte sie fast mit Heftigkeit seinen Kopf mit beiden      Händen an sich gezogen. &#x2014; Brich nie ein Menschenherz &#x2014; es thut zu weh! hatte sie zu dem      erstaunt aufschauenden Kinde gesagt, das sie nicht verstand. Sie sah ihn lange an und ließ ihn      dann langsam und wie mit einem inneren Widerstreben los.</p><lb/>
        <p>Alles das hatte auf das empfängliche Gemüth ihres Sohnes einen tiefen Eindruck gemacht, und      schon früh entwickelte sich bei ihm der dunkle Begriff, seine Mutter leide unter irgend einem      schweren, geheimnisvollen Schmerz, der ihm um so erhabener vorkam, als er sich vergebens dessen      Ursache zu enträthseln suchte; und wenn der alte Pfarrer von Heiligen sprach, die mit Geduld      ein Kreuz getragen, das doch gewöhnlichen Menschen unerträglich scheine, oder die ihr Leben      einer hohen Pflicht der Menschlichkeit gewidmet, dann dachte er, daß seine Mutter wohl auch      eine solche Heilige sei, nur wußten die Menschen nichts davon, weil es ein Geheimnis zwischen      ihr und ihrem Schöpfer sei. So wurde still unter dem befruchtenden Einflusse einer glühenden      Phantasie der Keim zu jenem Ascetismus in ihm gelegt, denn die katholische Kirche als die      höchste Blüte menschlicher Vollkommenheit zu betrachten lehrt.</p><lb/>
        <p>Seine Mutter sah es gern. Sie hatte sich jener religiösen Frömmigkeit ergeben, in welcher      weiche Herzen so gern Heilung suchen, und die bei ihrem Charakter nie in unduldsame Härte      übergehen konnte. Ihr heißester Wunsch war, ihren Sohn denselben Pfad wandeln zu sehen, der ihn      vor den Schlingen der Welt bewahren sollte, an welchen ihr eigenes Glück gescheitert, und der      so sicher zum Heil zu fuhren schien. Was ihr Balsam gewesen, warum sollte es nicht dem      Unerfahrenen die sichere Rettung sein? Und sie überlegte nicht, ob nicht<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0069] Stunde bei ihr einsprach, ja, er ist ein gutes — ein sehr gutes Kind! Aber — das Leben ist eine schwere Aufgabe — ich wünschte, er hätte die rechte Kraft. Einmal auch, nachdem sie lange geweint, hatte sie fast mit Heftigkeit seinen Kopf mit beiden Händen an sich gezogen. — Brich nie ein Menschenherz — es thut zu weh! hatte sie zu dem erstaunt aufschauenden Kinde gesagt, das sie nicht verstand. Sie sah ihn lange an und ließ ihn dann langsam und wie mit einem inneren Widerstreben los. Alles das hatte auf das empfängliche Gemüth ihres Sohnes einen tiefen Eindruck gemacht, und schon früh entwickelte sich bei ihm der dunkle Begriff, seine Mutter leide unter irgend einem schweren, geheimnisvollen Schmerz, der ihm um so erhabener vorkam, als er sich vergebens dessen Ursache zu enträthseln suchte; und wenn der alte Pfarrer von Heiligen sprach, die mit Geduld ein Kreuz getragen, das doch gewöhnlichen Menschen unerträglich scheine, oder die ihr Leben einer hohen Pflicht der Menschlichkeit gewidmet, dann dachte er, daß seine Mutter wohl auch eine solche Heilige sei, nur wußten die Menschen nichts davon, weil es ein Geheimnis zwischen ihr und ihrem Schöpfer sei. So wurde still unter dem befruchtenden Einflusse einer glühenden Phantasie der Keim zu jenem Ascetismus in ihm gelegt, denn die katholische Kirche als die höchste Blüte menschlicher Vollkommenheit zu betrachten lehrt. Seine Mutter sah es gern. Sie hatte sich jener religiösen Frömmigkeit ergeben, in welcher weiche Herzen so gern Heilung suchen, und die bei ihrem Charakter nie in unduldsame Härte übergehen konnte. Ihr heißester Wunsch war, ihren Sohn denselben Pfad wandeln zu sehen, der ihn vor den Schlingen der Welt bewahren sollte, an welchen ihr eigenes Glück gescheitert, und der so sicher zum Heil zu fuhren schien. Was ihr Balsam gewesen, warum sollte es nicht dem Unerfahrenen die sichere Rettung sein? Und sie überlegte nicht, ob nicht

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T13:30:48Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T13:30:48Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910/69
Zitationshilfe: Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910/69>, abgerufen am 27.04.2024.