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Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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dessen Mutter durch Entbehrung jedes Lebensgenusses im Laufe der Jahre mühsam zusammengespart. Unter einem Haufen alter Papiere, die vergessen in einem Fache lagen und die der junge Erbe durchstöberte, fand sich ein wahrscheinlich verlegter Brief, mit der Adresse an seine Mutter.

Das Papier war alt und gelb, aber die Spur der Thränen noch sichtbar, welche viele Worte fast unkenntlich gemacht.

"Madame," lautete dieses Schreiben, "ich habe Ihren Brief richtig erhalten und auch gelesen, so wenig unterhaltend, verzeihen Sie die eheliche Ungalanterie, sein Inhalt auch war. Sie hätten in dieser langen Zeit lernen können, daß Klagen nicht das Mittel sind, abtrünnige Herzen zur Treue zurückzuführen. Die Liebe ist ein verzogenes Kind, sie nährt sich von Duft und Rosen und sticht vor den Dornen, und waren sie noch so gut versteckt, davon. Tu dieu! Ergeben Sie sich in Ihr Schicksal! Sind Sie die einzige Frau, die in der Ehe nicht das gefunden, was sie in romantischen Mädchenträumen darin gesucht? Noch keine ist an Enttäuschung gestorben -- ich rede leider aus Erfahrung, liebe Madame. Was Sie mir von meinem Jungen schreiben, freut mich sehr. Es ist mir lieb, daß er Ihnen Freude macht, und ich hoffe, daß er einst ein wahrer Chanteloup sein wird. Was aber den väterlichen Schutz betrifft, so bin ich überzeugt, daß mein Sohn unter Ihrer Aufsicht dessen nicht bedarf. Ich achte Sie viel zu sehr, um das geringste Mißtrauen in Ihre mütterliche Liebe zu setzen, und lasse Ihnen in Allem, was seine Erziehung betrifft, vollkommen freie Hand. Für seine Zukunft, liebe Madame, werden wir sorgen, wenn es an der Zeit sein wird. Sie ist noch sehr weit von uns entfernt, diese Zukunft, Gott sei Dank! Und ein böses Schicksal könnte vielleicht Alles, was wir jetzt dafür thun wurden, bis dahin vereiteln. Jeder für sich und Gott für Alle, liebe Madame. --

dessen Mutter durch Entbehrung jedes Lebensgenusses im Laufe der Jahre mühsam zusammengespart. Unter einem Haufen alter Papiere, die vergessen in einem Fache lagen und die der junge Erbe durchstöberte, fand sich ein wahrscheinlich verlegter Brief, mit der Adresse an seine Mutter.

Das Papier war alt und gelb, aber die Spur der Thränen noch sichtbar, welche viele Worte fast unkenntlich gemacht.

„Madame,“ lautete dieses Schreiben, „ich habe Ihren Brief richtig erhalten und auch gelesen, so wenig unterhaltend, verzeihen Sie die eheliche Ungalanterie, sein Inhalt auch war. Sie hätten in dieser langen Zeit lernen können, daß Klagen nicht das Mittel sind, abtrünnige Herzen zur Treue zurückzuführen. Die Liebe ist ein verzogenes Kind, sie nährt sich von Duft und Rosen und sticht vor den Dornen, und waren sie noch so gut versteckt, davon. Tu dieu! Ergeben Sie sich in Ihr Schicksal! Sind Sie die einzige Frau, die in der Ehe nicht das gefunden, was sie in romantischen Mädchenträumen darin gesucht? Noch keine ist an Enttäuschung gestorben — ich rede leider aus Erfahrung, liebe Madame. Was Sie mir von meinem Jungen schreiben, freut mich sehr. Es ist mir lieb, daß er Ihnen Freude macht, und ich hoffe, daß er einst ein wahrer Chanteloup sein wird. Was aber den väterlichen Schutz betrifft, so bin ich überzeugt, daß mein Sohn unter Ihrer Aufsicht dessen nicht bedarf. Ich achte Sie viel zu sehr, um das geringste Mißtrauen in Ihre mütterliche Liebe zu setzen, und lasse Ihnen in Allem, was seine Erziehung betrifft, vollkommen freie Hand. Für seine Zukunft, liebe Madame, werden wir sorgen, wenn es an der Zeit sein wird. Sie ist noch sehr weit von uns entfernt, diese Zukunft, Gott sei Dank! Und ein böses Schicksal könnte vielleicht Alles, was wir jetzt dafür thun wurden, bis dahin vereiteln. Jeder für sich und Gott für Alle, liebe Madame. —

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[0073] dessen Mutter durch Entbehrung jedes Lebensgenusses im Laufe der Jahre mühsam zusammengespart. Unter einem Haufen alter Papiere, die vergessen in einem Fache lagen und die der junge Erbe durchstöberte, fand sich ein wahrscheinlich verlegter Brief, mit der Adresse an seine Mutter. Das Papier war alt und gelb, aber die Spur der Thränen noch sichtbar, welche viele Worte fast unkenntlich gemacht. „Madame,“ lautete dieses Schreiben, „ich habe Ihren Brief richtig erhalten und auch gelesen, so wenig unterhaltend, verzeihen Sie die eheliche Ungalanterie, sein Inhalt auch war. Sie hätten in dieser langen Zeit lernen können, daß Klagen nicht das Mittel sind, abtrünnige Herzen zur Treue zurückzuführen. Die Liebe ist ein verzogenes Kind, sie nährt sich von Duft und Rosen und sticht vor den Dornen, und waren sie noch so gut versteckt, davon. Tu dieu! Ergeben Sie sich in Ihr Schicksal! Sind Sie die einzige Frau, die in der Ehe nicht das gefunden, was sie in romantischen Mädchenträumen darin gesucht? Noch keine ist an Enttäuschung gestorben — ich rede leider aus Erfahrung, liebe Madame. Was Sie mir von meinem Jungen schreiben, freut mich sehr. Es ist mir lieb, daß er Ihnen Freude macht, und ich hoffe, daß er einst ein wahrer Chanteloup sein wird. Was aber den väterlichen Schutz betrifft, so bin ich überzeugt, daß mein Sohn unter Ihrer Aufsicht dessen nicht bedarf. Ich achte Sie viel zu sehr, um das geringste Mißtrauen in Ihre mütterliche Liebe zu setzen, und lasse Ihnen in Allem, was seine Erziehung betrifft, vollkommen freie Hand. Für seine Zukunft, liebe Madame, werden wir sorgen, wenn es an der Zeit sein wird. Sie ist noch sehr weit von uns entfernt, diese Zukunft, Gott sei Dank! Und ein böses Schicksal könnte vielleicht Alles, was wir jetzt dafür thun wurden, bis dahin vereiteln. Jeder für sich und Gott für Alle, liebe Madame. —

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Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T13:30:48Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
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Zitationshilfe: Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910/73>, abgerufen am 28.04.2024.