Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

pwo_143.001
Gegenwart fortdauernde Thaten; überdies verweist der angewünschte pwo_143.002
Lohn in die Zukunft:

pwo_143.003
"Und wagt der Schlemmer sich heraus, pwo_143.004
Soll mein Schwert es ihm verbittern" etc.
pwo_143.005

Mit Vorliebe werden auch hier allgemeine Betrachtungen gesucht:

pwo_143.006
"Der Mensch muß wohl erwägen und bedenken, pwo_143.007
Daß weder Stand noch Geist noch edles Streben pwo_143.008
Auf dieser Welt des Todes Macht beschränken."
pwo_143.009

Wie in den Liebesliedern die Liebe, ist es hier neben verwandten pwo_143.010
Begriffen namentlich die Ehre, welche als Allegorie auftritt:

pwo_143.011
"Jetzt muß die Ehre einsam weinend ziehn, pwo_143.012
Von jedermann verstoßen und verkannt ... pwo_143.013
Jetzt thut die Unehr' gänzlich nach Verlangen, pwo_143.014
Da Ehre wich aus ihrem Vaterland."
pwo_143.015

Auch zur Symbolisierung neigen die Troubadours. So pwo_143.016
müssen die Lilien des französischen Königsbanners zu bildlichen Ausdeutungen pwo_143.017
herhalten:

pwo_143.018
"Und wer gern diese Blumen bricht, pwo_143.019
Der kennt noch nicht pwo_143.020
Der Gärtner Macht, pwo_143.021
Die manchen Herrn, der sie verficht, pwo_143.022
Nach Hüters Pflicht pwo_143.023
Jn Wehr gebracht" u. s. f.
pwo_143.024

Von nationaler Bedeutung wie etwa die alte epische Dichtung pwo_143.025
ist trotz ihres politischen Zuges nur ein kleiner Teil der Sirventes; pwo_143.026
viele sind privaten Beziehungen zu Hochgestellten entsprungen. Am pwo_143.027
entschiedensten darf eine nationale Bedeutung das Kreuzlied in Anspruch pwo_143.028
nehmen, dessen Hauptaufgabe im Aufruf zum Kreuzzug bestand.

pwo_143.029

Die Ausläufer der provenzalischen Lyrik des Mittelalters haben pwo_143.030
wir einerseits in den zahlreichen Lehrgedichten, andererseits in den pwo_143.031
Tenzonen zu sehen, deren dialogische Streitfragen dramatischem Ton pwo_143.032
nahekommen. -

pwo_143.033

Auffallen muß, daß auf diese ins 12. und 13. Jahrhundert pwo_143.034
fallende Kunstlyrik Südfrankreichs eine Periode naiv volkstümlicher pwo_143.035
Lieder in Nordfrankreich folgt, die im 15. Jahrhundert durch pwo_143.036
Sänger wie Olivier Basselin, von dessen Heimat, dem Val de Vire,

pwo_143.001
Gegenwart fortdauernde Thaten; überdies verweist der angewünschte pwo_143.002
Lohn in die Zukunft:

pwo_143.003
„Und wagt der Schlemmer sich heraus, pwo_143.004
Soll mein Schwert es ihm verbittern“ etc.
pwo_143.005

Mit Vorliebe werden auch hier allgemeine Betrachtungen gesucht:

pwo_143.006
„Der Mensch muß wohl erwägen und bedenken, pwo_143.007
Daß weder Stand noch Geist noch edles Streben pwo_143.008
Auf dieser Welt des Todes Macht beschränken.“
pwo_143.009

Wie in den Liebesliedern die Liebe, ist es hier neben verwandten pwo_143.010
Begriffen namentlich die Ehre, welche als Allegorie auftritt:

pwo_143.011
„Jetzt muß die Ehre einsam weinend ziehn, pwo_143.012
Von jedermann verstoßen und verkannt ... pwo_143.013
Jetzt thut die Unehr' gänzlich nach Verlangen, pwo_143.014
Da Ehre wich aus ihrem Vaterland.“
pwo_143.015

  Auch zur Symbolisierung neigen die Troubadours. So pwo_143.016
müssen die Lilien des französischen Königsbanners zu bildlichen Ausdeutungen pwo_143.017
herhalten:

pwo_143.018
„Und wer gern diese Blumen bricht, pwo_143.019
Der kennt noch nicht pwo_143.020
Der Gärtner Macht, pwo_143.021
Die manchen Herrn, der sie verficht, pwo_143.022
Nach Hüters Pflicht pwo_143.023
Jn Wehr gebracht“ u. s. f.
pwo_143.024

  Von nationaler Bedeutung wie etwa die alte epische Dichtung pwo_143.025
ist trotz ihres politischen Zuges nur ein kleiner Teil der Sirventes; pwo_143.026
viele sind privaten Beziehungen zu Hochgestellten entsprungen. Am pwo_143.027
entschiedensten darf eine nationale Bedeutung das Kreuzlied in Anspruch pwo_143.028
nehmen, dessen Hauptaufgabe im Aufruf zum Kreuzzug bestand.

pwo_143.029

  Die Ausläufer der provenzalischen Lyrik des Mittelalters haben pwo_143.030
wir einerseits in den zahlreichen Lehrgedichten, andererseits in den pwo_143.031
Tenzonen zu sehen, deren dialogische Streitfragen dramatischem Ton pwo_143.032
nahekommen. –

pwo_143.033

  Auffallen muß, daß auf diese ins 12. und 13. Jahrhundert pwo_143.034
fallende Kunstlyrik Südfrankreichs eine Periode naiv volkstümlicher pwo_143.035
Lieder in Nordfrankreich folgt, die im 15. Jahrhundert durch pwo_143.036
Sänger wie Olivier Basselin, von dessen Heimat, dem Val de Vire,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0157" n="143"/><lb n="pwo_143.001"/>
Gegenwart fortdauernde Thaten; überdies verweist der angewünschte <lb n="pwo_143.002"/>
Lohn in die Zukunft:</p>
            <lb n="pwo_143.003"/>
            <lg>
              <l>&#x201E;Und wagt der Schlemmer sich heraus,</l>
              <lb n="pwo_143.004"/>
              <l>Soll mein Schwert es ihm verbittern&#x201C; etc.</l>
            </lg>
            <lb n="pwo_143.005"/>
            <p>Mit Vorliebe werden auch hier allgemeine Betrachtungen gesucht:</p>
            <lb n="pwo_143.006"/>
            <lg>
              <l>&#x201E;Der Mensch muß wohl erwägen und bedenken,</l>
              <lb n="pwo_143.007"/>
              <l>Daß weder Stand noch Geist noch edles Streben</l>
              <lb n="pwo_143.008"/>
              <l>Auf dieser Welt des Todes Macht beschränken.&#x201C;</l>
            </lg>
            <lb n="pwo_143.009"/>
            <p>Wie in den Liebesliedern die Liebe, ist es hier neben verwandten <lb n="pwo_143.010"/>
Begriffen namentlich die Ehre, welche als <hi rendition="#g">Allegorie</hi> auftritt:</p>
            <lb n="pwo_143.011"/>
            <lg>
              <l>&#x201E;Jetzt muß die Ehre einsam weinend ziehn,</l>
              <lb n="pwo_143.012"/>
              <l>Von jedermann verstoßen und verkannt ...</l>
              <lb n="pwo_143.013"/>
              <l>Jetzt thut die Unehr' gänzlich nach Verlangen,</l>
              <lb n="pwo_143.014"/>
              <l>Da Ehre wich aus ihrem Vaterland.&#x201C;</l>
            </lg>
            <lb n="pwo_143.015"/>
            <p>  Auch zur <hi rendition="#g">Symbolisierung</hi> neigen die Troubadours. So <lb n="pwo_143.016"/>
müssen die Lilien des französischen Königsbanners zu bildlichen Ausdeutungen <lb n="pwo_143.017"/>
herhalten:</p>
            <lb n="pwo_143.018"/>
            <lg>
              <l>&#x201E;Und wer gern diese Blumen bricht,</l>
              <lb n="pwo_143.019"/>
              <l>Der kennt noch nicht</l>
              <lb n="pwo_143.020"/>
              <l>Der Gärtner Macht,</l>
              <lb n="pwo_143.021"/>
              <l>Die manchen Herrn, der sie verficht,</l>
              <lb n="pwo_143.022"/>
              <l>Nach Hüters Pflicht</l>
              <lb n="pwo_143.023"/>
              <l>Jn Wehr gebracht&#x201C; u. s. f.</l>
            </lg>
            <lb n="pwo_143.024"/>
            <p>  Von nationaler Bedeutung wie etwa die alte epische Dichtung <lb n="pwo_143.025"/>
ist trotz ihres politischen Zuges nur ein kleiner Teil der Sirventes; <lb n="pwo_143.026"/>
viele sind privaten Beziehungen zu Hochgestellten entsprungen. Am <lb n="pwo_143.027"/>
entschiedensten darf eine nationale Bedeutung das Kreuzlied in Anspruch <lb n="pwo_143.028"/>
nehmen, dessen Hauptaufgabe im Aufruf zum Kreuzzug bestand.</p>
            <lb n="pwo_143.029"/>
            <p>  Die Ausläufer der provenzalischen Lyrik des Mittelalters haben <lb n="pwo_143.030"/>
wir einerseits in den zahlreichen Lehrgedichten, andererseits in den <lb n="pwo_143.031"/>
Tenzonen zu sehen, deren dialogische Streitfragen dramatischem Ton <lb n="pwo_143.032"/>
nahekommen. &#x2013;</p>
            <lb n="pwo_143.033"/>
            <p>  Auffallen muß, daß auf diese ins 12. und 13. Jahrhundert <lb n="pwo_143.034"/>
fallende Kunstlyrik Südfrankreichs eine Periode naiv volkstümlicher <lb n="pwo_143.035"/>
Lieder in <hi rendition="#g">Nordfrankreich</hi> folgt, die im 15. Jahrhundert durch <lb n="pwo_143.036"/>
Sänger wie Olivier Basselin, von dessen Heimat, dem Val de Vire,
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[143/0157] pwo_143.001 Gegenwart fortdauernde Thaten; überdies verweist der angewünschte pwo_143.002 Lohn in die Zukunft: pwo_143.003 „Und wagt der Schlemmer sich heraus, pwo_143.004 Soll mein Schwert es ihm verbittern“ etc. pwo_143.005 Mit Vorliebe werden auch hier allgemeine Betrachtungen gesucht: pwo_143.006 „Der Mensch muß wohl erwägen und bedenken, pwo_143.007 Daß weder Stand noch Geist noch edles Streben pwo_143.008 Auf dieser Welt des Todes Macht beschränken.“ pwo_143.009 Wie in den Liebesliedern die Liebe, ist es hier neben verwandten pwo_143.010 Begriffen namentlich die Ehre, welche als Allegorie auftritt: pwo_143.011 „Jetzt muß die Ehre einsam weinend ziehn, pwo_143.012 Von jedermann verstoßen und verkannt ... pwo_143.013 Jetzt thut die Unehr' gänzlich nach Verlangen, pwo_143.014 Da Ehre wich aus ihrem Vaterland.“ pwo_143.015   Auch zur Symbolisierung neigen die Troubadours. So pwo_143.016 müssen die Lilien des französischen Königsbanners zu bildlichen Ausdeutungen pwo_143.017 herhalten: pwo_143.018 „Und wer gern diese Blumen bricht, pwo_143.019 Der kennt noch nicht pwo_143.020 Der Gärtner Macht, pwo_143.021 Die manchen Herrn, der sie verficht, pwo_143.022 Nach Hüters Pflicht pwo_143.023 Jn Wehr gebracht“ u. s. f. pwo_143.024   Von nationaler Bedeutung wie etwa die alte epische Dichtung pwo_143.025 ist trotz ihres politischen Zuges nur ein kleiner Teil der Sirventes; pwo_143.026 viele sind privaten Beziehungen zu Hochgestellten entsprungen. Am pwo_143.027 entschiedensten darf eine nationale Bedeutung das Kreuzlied in Anspruch pwo_143.028 nehmen, dessen Hauptaufgabe im Aufruf zum Kreuzzug bestand. pwo_143.029   Die Ausläufer der provenzalischen Lyrik des Mittelalters haben pwo_143.030 wir einerseits in den zahlreichen Lehrgedichten, andererseits in den pwo_143.031 Tenzonen zu sehen, deren dialogische Streitfragen dramatischem Ton pwo_143.032 nahekommen. – pwo_143.033   Auffallen muß, daß auf diese ins 12. und 13. Jahrhundert pwo_143.034 fallende Kunstlyrik Südfrankreichs eine Periode naiv volkstümlicher pwo_143.035 Lieder in Nordfrankreich folgt, die im 15. Jahrhundert durch pwo_143.036 Sänger wie Olivier Basselin, von dessen Heimat, dem Val de Vire,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/157
Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/157>, abgerufen am 29.04.2024.