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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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Scenisch-dramatisch schließlich:

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"Diu frowe begunde weinen. pwo_151.003
,du reitst und last mich eine.'"

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Gewiß fehlt es den hervorragenderen unter den späteren ritterlichen pwo_151.005
Dichtern nicht an mancherlei eindrucksvollen plastischen Elementen; pwo_151.006
aber das Herausschälen der Empfindung aus einem erzählenden Kern pwo_151.007
bleibt nicht mehr Grundsatz.

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Nach gleicher Richtung, auf den Anschluß an epische Formen, pwo_151.009
weisen uns schließlich die Versmaße einiger älteren Minnesänger. pwo_151.010
Zur genüge bekannt ist die Jdentität der Kürenberg-Strophe mit der pwo_151.011
Nibelungen-Strophe. Auch der Burggraf von Regensburg bedient pwo_151.012
sich in seinen Liedern einer nahe verwandten Form. Von epischen pwo_151.013
Dichtungen andererseits bewahren die Nibelungen-Kürenberg-Strophe pwo_151.014
das Alphartlied, der Rosengarten, Ortnit sowie Wolfdietrich; dazu pwo_151.015
gesellen sich offenbare Ableitungen in der Gudrun, in dem Gedicht pwo_151.016
von Walther und Hildegund sowie in der Rabenschlacht. Man darf pwo_151.017
also feststellen, daß die vorherrschende Form der nationalen Epen in pwo_151.018
den ältesten Minneliedern anklingt.

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übernommen sein könnte oder nicht, immer bliebe sie ein episches pwo_151.021
Maß, und wir ständen demgemäß vor der Thatsache, daß auch in der pwo_151.022
äußeren Form die älteste bekannte Lyrik mit der Epik noch zusammenhängt.

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Die Entstehung dieser Strophenform weist überdies jedenfalls auf pwo_151.025
den alten Langvers zurück. Auf dem Wege, der vom allitterierenden pwo_151.026
Langvers über Otfrieds Reimvers zur Ueberwindung der eingerissenen pwo_151.027
Willkür und zu gesetzmäßiger Ordnung im Gebrauch voller (vierhebiger) pwo_151.028
und stumpfer (dreihebiger) Verse bezw. Vershälften führt, pwo_151.029
bezeichnet die Nibelungen-Kürenberg-Strophe einen weiteren, prinzipiell pwo_151.030
letzten Schritt: der ersten Vershälfte sind im Prinzip vier Hebungen, pwo_151.031
der zweiten drei zugeteilt, nur daß den Strophenschluß die Verwendung pwo_151.032
von vier Hebungen auch in der zweiten Vershälfte andeutet. pwo_151.033
Dieser Zusammenhang mit der Entwicklung der epischen Form giebt pwo_151.034
zum mindesten einen weiteren Fingerzeig, daß die Ausbildung der pwo_151.035
Lyrik vor den uns überlieferten Denkmälern jedenfalls nicht unabhängig pwo_151.036
von der epischen Entwicklung anzusetzen ist.

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Scenisch-dramatisch schließlich:

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„Diu frowe begunde weinen. pwo_151.003
‚du rîtst und lâst mich eine.'“

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Gewiß fehlt es den hervorragenderen unter den späteren ritterlichen pwo_151.005
Dichtern nicht an mancherlei eindrucksvollen plastischen Elementen; pwo_151.006
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  Nach gleicher Richtung, auf den Anschluß an epische Formen, pwo_151.009
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Zur genüge bekannt ist die Jdentität der Kürenberg-Strophe mit der pwo_151.011
Nibelungen-Strophe. Auch der Burggraf von Regensburg bedient pwo_151.012
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von Walther und Hildegund sowie in der Rabenschlacht. Man darf pwo_151.017
also feststellen, daß die vorherrschende Form der nationalen Epen in pwo_151.018
den ältesten Minneliedern anklingt.

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  Gleichviel nun, ob die Nibelungen-Strophe aus dem Volksgesang pwo_151.020
übernommen sein könnte oder nicht, immer bliebe sie ein episches pwo_151.021
Maß, und wir ständen demgemäß vor der Thatsache, daß auch in der pwo_151.022
äußeren Form die älteste bekannte Lyrik mit der Epik noch zusammenhängt.

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  Die Entstehung dieser Strophenform weist überdies jedenfalls auf pwo_151.025
den alten Langvers zurück. Auf dem Wege, der vom allitterierenden pwo_151.026
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bezeichnet die Nibelungen-Kürenberg-Strophe einen weiteren, prinzipiell pwo_151.030
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der zweiten drei zugeteilt, nur daß den Strophenschluß die Verwendung pwo_151.032
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zum mindesten einen weiteren Fingerzeig, daß die Ausbildung der pwo_151.035
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[151/0165] pwo_151.001 Scenisch-dramatisch schließlich: pwo_151.002 „Diu frowe begunde weinen. pwo_151.003 ‚du rîtst und lâst mich eine.'“ pwo_151.004 Gewiß fehlt es den hervorragenderen unter den späteren ritterlichen pwo_151.005 Dichtern nicht an mancherlei eindrucksvollen plastischen Elementen; pwo_151.006 aber das Herausschälen der Empfindung aus einem erzählenden Kern pwo_151.007 bleibt nicht mehr Grundsatz. pwo_151.008   Nach gleicher Richtung, auf den Anschluß an epische Formen, pwo_151.009 weisen uns schließlich die Versmaße einiger älteren Minnesänger. pwo_151.010 Zur genüge bekannt ist die Jdentität der Kürenberg-Strophe mit der pwo_151.011 Nibelungen-Strophe. Auch der Burggraf von Regensburg bedient pwo_151.012 sich in seinen Liedern einer nahe verwandten Form. Von epischen pwo_151.013 Dichtungen andererseits bewahren die Nibelungen-Kürenberg-Strophe pwo_151.014 das Alphartlied, der Rosengarten, Ortnit sowie Wolfdietrich; dazu pwo_151.015 gesellen sich offenbare Ableitungen in der Gudrun, in dem Gedicht pwo_151.016 von Walther und Hildegund sowie in der Rabenschlacht. Man darf pwo_151.017 also feststellen, daß die vorherrschende Form der nationalen Epen in pwo_151.018 den ältesten Minneliedern anklingt. pwo_151.019   Gleichviel nun, ob die Nibelungen-Strophe aus dem Volksgesang pwo_151.020 übernommen sein könnte oder nicht, immer bliebe sie ein episches pwo_151.021 Maß, und wir ständen demgemäß vor der Thatsache, daß auch in der pwo_151.022 äußeren Form die älteste bekannte Lyrik mit der Epik noch zusammenhängt. pwo_151.023 pwo_151.024   Die Entstehung dieser Strophenform weist überdies jedenfalls auf pwo_151.025 den alten Langvers zurück. Auf dem Wege, der vom allitterierenden pwo_151.026 Langvers über Otfrieds Reimvers zur Ueberwindung der eingerissenen pwo_151.027 Willkür und zu gesetzmäßiger Ordnung im Gebrauch voller (vierhebiger) pwo_151.028 und stumpfer (dreihebiger) Verse bezw. Vershälften führt, pwo_151.029 bezeichnet die Nibelungen-Kürenberg-Strophe einen weiteren, prinzipiell pwo_151.030 letzten Schritt: der ersten Vershälfte sind im Prinzip vier Hebungen, pwo_151.031 der zweiten drei zugeteilt, nur daß den Strophenschluß die Verwendung pwo_151.032 von vier Hebungen auch in der zweiten Vershälfte andeutet. pwo_151.033 Dieser Zusammenhang mit der Entwicklung der epischen Form giebt pwo_151.034 zum mindesten einen weiteren Fingerzeig, daß die Ausbildung der pwo_151.035 Lyrik vor den uns überlieferten Denkmälern jedenfalls nicht unabhängig pwo_151.036 von der epischen Entwicklung anzusetzen ist.

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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/165>, abgerufen am 29.04.2024.