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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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als er endahte mich, pwo_159.002
so wolte er sunder wat pwo_159.003
mein arme schowen bloz. pwo_159.004
ez was ein wunder groz pwo_159.005
daz in des nie verdroz. pwo_159.006
do tagete ez."

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Und doch handelt es sich nicht um eine unmittelbare Darstellung in pwo_159.008
zeitlich vorschreitender Scenenfolge: nur aus der Erinnerung sind ein pwo_159.009
paar sprechende, aber neben einander hergehende Züge zusammengestellt; pwo_159.010
so ist die geistige Verarbeitung des Erlebten nicht folgerecht pwo_159.011
dramatisch gefärbt, sondern beschreibend. Jmmerhin läßt sich eine pwo_159.012
volle, wirkliche Handlung aus der Darlegung seiner Empfindungen pwo_159.013
gewinnen, um so einheitlicher als er seine Liebe konsequent unter pwo_159.014
ritterlichen Bildern betrachtet.

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Alle Elemente, die in der Blütezeit mittelhochdeutscher Lyrik entfesselt pwo_159.016
waren, faßt Walther von der Vogelweide zusammen. Nicht nur pwo_159.017
als vollendetster, auch als reichster, mannigfaltigster Dichter nimmt er pwo_159.018
in der Entwicklung der Lyrik einen hervorragenden Platz ein. Daß pwo_159.019
Walthers Dichtung sich nicht in Schemen verflüchtigt, daß mit der pwo_159.020
von uns beobachteten Zunahme der Selbstversenkung und Vergeistigung pwo_159.021
nicht notgedrungen gestaltenlose Abstraktion geboten ist, zeigt schon der pwo_159.022
Eingang zahlreicher Lieder Walthers.

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"Ich saz auf eime steine", pwo_159.024
"Ich horte ein wazzer diezen", pwo_159.025
"Ich sach mit meinen ougen"

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u. dgl. Dieser größte Lyriker des deutschen Mittelalters reflektiert pwo_159.027
allerdings in ausgedehntem Maße, aber er geht von einer anschaulichen pwo_159.028
Situation aus und kleidet sein Sinnen möglichst weit in plastische pwo_159.029
Bilder. Bisweilen bleibt die Anknüpfung äußerlich: so verkörpert pwo_159.030
in dem bekannten Gedicht sein Sitzen auf dem Steine nur pwo_159.031
die Situation, in welcher er nachgedacht. Bedeutsamer sind die Betrachtungen, pwo_159.032
die unmittelbar aus der Situation selbst herauswachsen, pwo_159.033
von ihr angeregt sind:

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"Ich horte ein wazzer diezen pwo_159.035
und sach die vische vliezen: pwo_159.036
ich sach swaz in der werlte was, pwo_159.037
velt unde walt, loup, ror und gras."

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als er endahte mich, pwo_159.002
sô wolte er sunder wât pwo_159.003
mîn arme schowen blôz. pwo_159.004
ez was ein wunder grôz pwo_159.005
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  dô tagete ez.“

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Und doch handelt es sich nicht um eine unmittelbare Darstellung in pwo_159.008
zeitlich vorschreitender Scenenfolge: nur aus der Erinnerung sind ein pwo_159.009
paar sprechende, aber neben einander hergehende Züge zusammengestellt; pwo_159.010
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gewinnen, um so einheitlicher als er seine Liebe konsequent unter pwo_159.014
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  Alle Elemente, die in der Blütezeit mittelhochdeutscher Lyrik entfesselt pwo_159.016
waren, faßt Walther von der Vogelweide zusammen. Nicht nur pwo_159.017
als vollendetster, auch als reichster, mannigfaltigster Dichter nimmt er pwo_159.018
in der Entwicklung der Lyrik einen hervorragenden Platz ein. Daß pwo_159.019
Walthers Dichtung sich nicht in Schemen verflüchtigt, daß mit der pwo_159.020
von uns beobachteten Zunahme der Selbstversenkung und Vergeistigung pwo_159.021
nicht notgedrungen gestaltenlose Abstraktion geboten ist, zeigt schon der pwo_159.022
Eingang zahlreicher Lieder Walthers.

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„Ich saz ûf eime steine“, pwo_159.024
„Ich hôrte ein wazzer diezen“, pwo_159.025
„Ich sach mit mînen ougen“

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u. dgl. Dieser größte Lyriker des deutschen Mittelalters reflektiert pwo_159.027
allerdings in ausgedehntem Maße, aber er geht von einer anschaulichen pwo_159.028
Situation aus und kleidet sein Sinnen möglichst weit in plastische pwo_159.029
Bilder. Bisweilen bleibt die Anknüpfung äußerlich: so verkörpert pwo_159.030
in dem bekannten Gedicht sein Sitzen auf dem Steine nur pwo_159.031
die Situation, in welcher er nachgedacht. Bedeutsamer sind die Betrachtungen, pwo_159.032
die unmittelbar aus der Situation selbst herauswachsen, pwo_159.033
von ihr angeregt sind:

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„Ich hôrte ein wazzer diezen pwo_159.035
und sach die vische vliezen: pwo_159.036
ich sach swaz in der werlte was, pwo_159.037
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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/173>, abgerufen am 29.04.2024.