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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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"Füllest wieder Busch und Thal pwo_173.002
Still mit Nebelglanz, pwo_173.003
Lösest endlich auch einmal pwo_173.004
Meine Seele ganz, pwo_173.005
Breitest über mein Gefild pwo_173.006
Lindernd deinen Blick, pwo_173.007
Wie des Freundes Auge mild pwo_173.008
Ueber mein Geschick."
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Tritt schon damit der Mond in - sofort vergeistigte - Beziehung pwo_173.010
zu der Gestalt des Dichters, so wird in der Folge die Scenerie noch pwo_173.011
breiter ausgemalt. Ein weiterer Stimmungserreger tritt hinzu:

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"Fließe, fließe, lieber Fluß! pwo_173.013
Nimmer werd' ich froh, pwo_173.014
So verrauschte Scherz und Kuß, pwo_173.015
Und die Treue so."
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Entsprechend ist auch ferner die scenische Anregung aufs Geistige pwo_173.017
gewandt.

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Oft entfaltet Goethe seine Stimmungen direkt in handlungsvoller pwo_173.019
Erzählung, welche die gesamte Natur beseelt und in Beziehung pwo_173.020
zum Menschengeist setzt.

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"Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde! pwo_173.022
Es war gethan, fast eh gedacht; pwo_173.023
Der Abend wiegte schon die Erde, pwo_173.024
Und an den Bergen hing die Nacht: pwo_173.025
Schon stand im Nebelkleid die Eiche, pwo_173.026
Ein aufgetürmter Riese da, pwo_173.027
Wo Finsternis aus dem Gesträuche pwo_173.028
Mit hundert schwarzen Augen sah."
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Jn vollem Leben sehen wir die Naturmächte vor uns: die Vergeistigung pwo_173.030
hat nicht bei der Darstellung des Menschen Halt gemacht, Seele pwo_173.031
durchweht das All. So verschmilzt Goethes Lyrik zu einer höheren pwo_173.032
Einheit die reifen Früchte der Bildung mit dem elementar melodischen pwo_173.033
und schlicht bildkräftigen Zuge des Volksliedes.

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§. 70. pwo_173.035
Litterarische Lyrik.
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Neben Goethe wirkten andere Stürmer und Dränger, besonders pwo_173.037
Lenz, und der Göttinger Dichterkreis, vor allem Bürger, in gleichem

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Breitest über mein Gefild pwo_173.006
Lindernd deinen Blick, pwo_173.007
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Ueber mein Geschick.“
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zu der Gestalt des Dichters, so wird in der Folge die Scenerie noch pwo_173.011
breiter ausgemalt. Ein weiterer Stimmungserreger tritt hinzu:

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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/187>, abgerufen am 29.04.2024.