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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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Sinne, alsdann die jüngeren Anhänger der Romantik und die aus pwo_174.002
ihr hervorgegangenen Dichtergruppen.

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Dennoch ist der rhetorische Zug zur Vorherrschaft in der deutschen pwo_174.004
Lyrik gelangt. Noch viel einschneidender als in der Epik beeinflußt pwo_174.005
der Wechsel der Vortragsart den Stil der Lyrik. Seit pwo_174.006
Beginn der Neuzeit dehnt sich neben dem gesungenen Lied eine Lyrik pwo_174.007
aus, die nicht mehr zum Singen, sondern zum Lesen bestimmt ist. pwo_174.008
Damit schwindet die Nötigung zu abgerissener Kürze, zu melodiöser pwo_174.009
Bewegung, zu plastischer Anschaulichkeit. Das zunehmende Abstraktionsvermögen pwo_174.010
kann sich schrankenlos ausleben, die Gleichförmigkeit und pwo_174.011
Eintönigkeit des Metrums ohne Rücksicht auf musikalische Verwendbarkeit pwo_174.012
durchgeführt werden. Dafür bietet sich als Schmuck die lebhafte pwo_174.013
und schwungvolle Färbung des rednerischen Stils, Wohllaut und Wirksamkeit pwo_174.014
der bloßen Worte.

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Zu glänzender Durchführung und fortreißender Wirkung hat pwo_174.016
Schiller diesen Stil ausgebildet. Er neigt zur poetischen Reflexion pwo_174.017
über abstrakte Begriffe:

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"Drei Worte nenn' ich euch, inhaltschwer, pwo_174.019
Sie gehen von Munde zu Munde; pwo_174.020
Doch stammen sie nicht von außen her, pwo_174.021
Das Herz nur giebt davon Kunde. pwo_174.022
Dem Menschen ist aller Wert geraubt, pwo_174.023
Wenn er nicht mehr an die drei Worte glaubt. pwo_174.024
Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei ... pwo_174.025
Und die Tugend, sie ist kein leerer Schall" etc.
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Selbst die Spiegelung konkreter Lebensverhältnisse mündet in überredende pwo_174.027
Aussprache allgemeiner Wahrheiten; anderen Orts ist ein pwo_174.028
gegenständlicher Kern ganz von ethischen Antrieben umflossen:

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"Denn wo das Strenge mit dem Zarten, pwo_174.030
Wo Starkes sich und Mildes paarten, pwo_174.031
Da giebt es einen guten Klang. pwo_174.032
Drum prüfe, wer sich ewig bindet, pwo_174.033
Ob sich das Herz zum Herzen findet! pwo_174.034
Der Wahn ist kurz, die Reu' ist lang."
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An diese Aussprache von Lebensweisheit schließt sich zunächst eine Art pwo_174.036
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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/188>, abgerufen am 29.04.2024.