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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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Mit Vorliebe aber benutzt man die litterarische Lyrik zu einfacher pwo_176.002
Aussprache, Erzählung oder Entwicklung von Gefühlen und inneren pwo_176.003
Erlebnissen. Jn Geibels "Abschied von Lindau" heißt es:

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"Du bist mir hold gewesen; pwo_176.005
So nimm des Gastes Dank, pwo_176.006
Der hoffnungsvoll Genesen pwo_176.007
Aus deinen Lüften trank" u. s. f.
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Natürlich sind die Grenzlinien zum Lied fließend, wie denn gerade pwo_176.009
Geibel auch Material für den lebendigen Gesang geliefert hat.

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Auch wo die Rhetorik nicht einmal mehr Stimmungen, sondern pwo_176.011
gewisse Ansichten vermitteln will, bewahrt sie die lyrische Grundform pwo_176.012
des Wunsches und Anrufes.

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"Reißt die Kreuze aus der Erden! pwo_176.014
Alle sollen Schwerter werden!"
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lautet ein revolutionärer Refrän Herweghs. Eine ähnliche Form liegt pwo_176.016
seinem Ruf zugrunde:

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"Sie sollen alle singen pwo_176.018
Nach ihres Herzens Lust; pwo_176.019
Doch mir soll fürder klingen pwo_176.020
Ein Lied nur aus der Brust: pwo_176.021
Ein Lied, um dich zu preisen, pwo_176.022
Du Nibelungenhort, pwo_176.023
Du Brot und Stein der Weisen, pwo_176.024
Du freies Wort! ... pwo_176.025
O jagt einmal die Raben pwo_176.026
Aus unsern Landen fort, pwo_176.027
Und sprecht: Jhr sollt es haben, pwo_176.028
Das freie Wort!"
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Wie die jungdeutsche hat die jüngstdeutsche Lyrik uns im allgemeinen pwo_176.030
noch tiefer in tendenziöse Rhetorik hineingeführt.

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Jn der französischen Lyrik hat vollends rednerische Deklamation pwo_176.032
gesiegt, obschon es auch in der Neuzeit nicht an einzelnen Liederdichtern pwo_176.033
wie Beranger gefehlt hat.

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Wesen und Wandlungen der Lyrik.
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Die Lyrik ist nicht mehr, wie die Epik, ihrem Wesen nach auf pwo_176.037
Erzählung vergangener Thatsachen gestellt, geht vielmehr auf Aus=

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Mit Vorliebe aber benutzt man die litterarische Lyrik zu einfacher pwo_176.002
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Erlebnissen. Jn Geibels „Abschied von Lindau“ heißt es:

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Alle sollen Schwerter werden!“
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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 176. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/190>, abgerufen am 29.04.2024.