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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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immer vor; häufig allerdings kommen Scenen des Alten Testaments pwo_193.002
zu "vorbildlicher" Verwendung, so in einem Heidelberger Passionsspiel, pwo_193.003
so in dem noch heute durch Aufführungen fortlebenden pwo_193.004
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Sinnbild der Schuld, wonach der Baum des Kreuzes die Erlösung pwo_193.006
repräsentiert; ähnlich erscheint der Verkauf Josefs durch seine Brüder pwo_193.007
als "Vorbild" für den Verrat des Heilandes durch Judas u. s. f.

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Legenden gelangen zur Dramatisierung von der heiligen Katharina, pwo_193.009
von Dorothea, auch ein niederdeutscher Theophilus ist überliefert; pwo_193.010
ein Spiel von Frau Jutten besitzen wir sogar mit Verfassernamen pwo_193.011
(von dem Geistlichen Theodorich Schernberg 1480).

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Mit der Zunahme weltlicher und ernstloser Episoden sowie mit pwo_193.013
der anwachsenden Erweiterung nach rein ästhetischen Grundsätzen werden pwo_193.014
die geistlichen Spiele aus der Kirche herausgedrängt. Noch während pwo_193.015
des 16. Jahrhunderts finden wir Aufführungen in der Kirche. pwo_193.016
Doch schon im 14. Jahrhundert werden neben den Priestern, denen pwo_193.017
zuerst die Dichtung wie die Darstellung allein obliegt, besonders pwo_193.018
Schüler als Darsteller herangezogen. Alsdann nehmen Lehrer, Studenten, pwo_193.019
Gewerke und auch andere Bürger an der Aufführung thätigen pwo_193.020
Anteil. Jn diesen geistlichen Spielen traten oft mehrere hundert pwo_193.021
Personen auf. Da alle Mitspieler zugleich erschienen - oft in Umzügen pwo_193.022
- und in Gruppen warteten, bis sie die Reihe zum Sprechen pwo_193.023
traf, waren große Räume erforderlich, um so mehr als Himmel, Erde pwo_193.024
und Hölle in verschiedenen Stockwerken - wennschon in primitivster pwo_193.025
Andeutung durch Gerüste oder Fässer - gespielt wurden. Zwar pwo_193.026
mußte unter diesen Umständen ohne äußeren Scenenwechsel neben pwo_193.027
bezw. über einander gespielt werden; doch bringen es die zugrunde pwo_193.028
liegenden biblischen Berichte mit sich, daß sowohl im Ort wie in der pwo_193.029
Zeit von einem Punkt zum andern übergesprungen wird, von einer pwo_193.030
innerlichen Einheit des Ortes und der Zeit demnach nicht pwo_193.031
die Rede sein kann.
Zettel bezeichnen die wechselnde Oertlichkeit.

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Daß ein dramatischer Kern den geistlichen Spielen innewohnt, pwo_193.033
ist schon durch ihre Anfänge nahegelegt, nur daß er natürlich erst pwo_193.034
allmählich anwächst. Der epische Bericht der Bibel wird durch Rollenverteilung, pwo_193.035
Bewegung und scenische Ausgestaltung zunächst verkörpert; pwo_193.036
die Vergegenwärtigung ist indes nicht vollendet, solange nicht

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die Rede sein kann.
Zettel bezeichnen die wechselnde Oertlichkeit.

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ist schon durch ihre Anfänge nahegelegt, nur daß er natürlich erst pwo_193.034
allmählich anwächst. Der epische Bericht der Bibel wird durch Rollenverteilung, pwo_193.035
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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 193. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/207>, abgerufen am 29.04.2024.