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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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Meister" Shakespeares Dramen huldigt: "Es sind keine Gedichte! pwo_205.002
Man glaubt vor den aufgeschlagenen, ungeheuren Büchern des Schicksals pwo_205.003
zu stehen, in denen der Sturmwind des bewegtesten Lebens pwo_205.004
saust, und sie mit Gewalt rasch hin und wieder blättert."

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Entscheidend fällt ins Gewicht, daß Shakespeare sowohl im König pwo_205.006
wie im Bettler nicht den bloßen Repräsentanten seines Standes sieht, pwo_205.007
sondern den individuellen Menschen sucht. Die steife Würde des pwo_205.008
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und die Liebhaber.

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Auch der von Shakespeare begründete Tragödienstil läßt der pwo_205.012
Reflexion Raum: nur dient sie nicht den gleichförmigen Jdeen des pwo_205.013
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Charakteren, die sie ausüben. Allgemein dienen die dramatischen pwo_205.015
Personen hier nicht als Sprachrohr des Dichters, sondern stehen auf pwo_205.016
eigenen Füßen, sprechen aus ihrem eigenartigen Charakter heraus. pwo_205.017
Aber überhaupt reden sie nicht nur, am wenigsten über ihren pwo_205.018
Charakter, sie handeln charakteristisch. Otto Ludwigs Shakespeare- pwo_205.019
Studien beleuchten diese Stilart durch scharfen Kontrast zu einer pwo_205.020
anderweitigen Verfahrungsweise: "Jene stellt durch Aussprechen, diese pwo_205.021
durch Darstellung dar; in jener spricht der Autor in seinen leicht pwo_205.022
maskierten Personen, in dieser der Autor durch die innere Selbständigkeit pwo_205.023
seiner Personen mit dem Publikum, was den Schein gewinnt, pwo_205.024
als sprächen die Personen selber und hätten keinen andern Autor, als pwo_205.025
ihr Autor selbst - die schaffende Natur." Diese dämonische Kongenialität pwo_205.026
zur schaffenden Natur darf uns aber nicht wie den eben pwo_205.027
genannten realistischen Dramaturgen blind gegen den Fortschritt machen, pwo_205.028
den unser deutsches Trauerspiel im 18. und 19. Jahrhundert errungen, pwo_205.029
indem es den Menschen innerlich über sein Schicksal emporhob.

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Das deutsche Trauerspiel.
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Das deutsche Trauerspiel wie jeder Kulturfaktor unseres Volkes pwo_205.033
zeigt in seiner Entwicklung ein jahrhundertelanges Ringen des nationalen pwo_205.034
Geistes mit fremden Einflüssen, denen er sich weit hingiebt, bis pwo_205.035
er, endlich zur vollen Selbständigkeit erzogen, sich auf die eigene

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Meister“ Shakespeares Dramen huldigt: „Es sind keine Gedichte! pwo_205.002
Man glaubt vor den aufgeschlagenen, ungeheuren Büchern des Schicksals pwo_205.003
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  Entscheidend fällt ins Gewicht, daß Shakespeare sowohl im König pwo_205.006
wie im Bettler nicht den bloßen Repräsentanten seines Standes sieht, pwo_205.007
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und die Liebhaber.

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  Auch der von Shakespeare begründete Tragödienstil läßt der pwo_205.012
Reflexion Raum: nur dient sie nicht den gleichförmigen Jdeen des pwo_205.013
Dichters, sondern entspricht in mannigfacher Abstufung den jeweiligen pwo_205.014
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Das deutsche Trauerspiel.
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  Das deutsche Trauerspiel wie jeder Kulturfaktor unseres Volkes pwo_205.033
zeigt in seiner Entwicklung ein jahrhundertelanges Ringen des nationalen pwo_205.034
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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/219>, abgerufen am 28.04.2024.