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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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Kraft stellt, um damit alsbald zu einer Säule für den Weiterbau der pwo_206.002
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Das geistliche Schauspiel erfährt zwar im Reformationszeitalter pwo_206.004
eine eigenartige Belebung, bewahrt auch noch volkstümliche Züge, pwo_206.005
unterliegt aber in der formellen Vervollkommnung gelehrten Einflüssen. pwo_206.006
Paul Rebhuhns "Spiel von der keuschen Susanna" führt einen Chor pwo_206.007
nach antikem Muster ein, wie denn besonders in seiner Heimat Sachsen pwo_206.008
das geistliche Spiel unter den Händen von Geistlichen und Schulmännern pwo_206.009
gelehrteren Anstrich gewinnt und gern dogmatischen oder pwo_206.010
pädagogischen Zwecken dient. Mehr mit dem Volke bleibt es namentlich pwo_206.011
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protestantischen Charakter an.

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Das weltliche Trauerspiel findet im 16. Jahrhundert zunächst pwo_206.014
an Hans Sachs und seiner Schule Bearbeiter. Er behandelt auch pwo_206.015
manche geistliche Stoffe in rein weltlich-künstlerischer Absicht, zieht vor pwo_206.016
allem die deutsche Heldensage, die griechische Mythologie, sowie die pwo_206.017
Geschichte als Stoffgebiet heran. Aber der Horizont dieser bürgerlichen pwo_206.018
Dichter bleibt nur bürgerlich; der heroische Zug der Quellen pwo_206.019
wird unfreiwillig ins Banale nüchterner Handwerksmoral travestiert. pwo_206.020
So macht Hans Sachs 1557 aus der Siegfriedsage eine Tragödie pwo_206.021
mit der Moral: bleibe im Lande und nähre dich redlich! Siegfried pwo_206.022
kommt um, weil der Fürwitz das junge Blut stach, auf Abenteuer pwo_206.023
auszureiten, statt daheim bei seinen Eltern zu bleiben, wo er so sicher pwo_206.024
vor jedem Feinde war! Für tragische Größe fehlt also noch das pwo_206.025
rechte Verständnis; immerhin ist es nicht bedeutungslos, daß Hans pwo_206.026
Sachs diejenigen seiner Dramen, welche, selbst nach Unheil und Totschlag, pwo_206.027
den Zuschauer schließlich in tröstlicher Stimmung entlassen, pwo_206.028
noch Komödien nennt: erst bei absolut traurigem, entsetzlichem Endeindruck pwo_206.029
tritt die Bezeichnung Tragödie ein.

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Mit dem Auftauchen der englischen Komödianten wird die deutsche pwo_206.031
Schauspielaufführung aus dem bisherigen Dilettantismus zu wirklicher pwo_206.032
Kunst erhoben: anstelle der Festspieler treten Berufsspieler. Auch die pwo_206.033
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glänzende Vervollkommnung. Vor allem gewinnt die Handlung pwo_206.035
mehr Bewegung, und zum ersten male wird der menschlichen pwo_206.036
Leidenschaft die Zunge gelöst. Trotz der Roheit dieser Anfänge -

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Kraft stellt, um damit alsbald zu einer Säule für den Weiterbau der pwo_206.002
gesamten Weltlitteratur anzuwachsen.

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  Das geistliche Schauspiel erfährt zwar im Reformationszeitalter pwo_206.004
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unterliegt aber in der formellen Vervollkommnung gelehrten Einflüssen. pwo_206.006
Paul Rebhuhns „Spiel von der keuschen Susanna“ führt einen Chor pwo_206.007
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  Das weltliche Trauerspiel findet im 16. Jahrhundert zunächst pwo_206.014
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Geschichte als Stoffgebiet heran. Aber der Horizont dieser bürgerlichen pwo_206.018
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  Mit dem Auftauchen der englischen Komödianten wird die deutsche pwo_206.031
Schauspielaufführung aus dem bisherigen Dilettantismus zu wirklicher pwo_206.032
Kunst erhoben: anstelle der Festspieler treten Berufsspieler. Auch die pwo_206.033
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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 206. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/220>, abgerufen am 28.04.2024.