Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

Bild:
<< vorherige Seite
pwo_210.001
"Stünd' ich, Natur! vor dir ein Mann allein, pwo_210.002
Da wär's der Mühe wert, ein Mensch zu sein."
pwo_210.003

So sucht der Titan in der That das Schicksal zu meistern.

pwo_210.004
"Und fragt ihr mich, wer es zu Tage schafft: pwo_210.005
Begabten Manns Natur- und Geisteskraft."
pwo_210.006

So stürmt der feurige Genius, immer durchaus auf das Handeln, pwo_210.007
nicht auf das Leiden gestellt, darein. Höchst bezeichnend läßt er seinen pwo_210.008
Tasso gegen die Geschichte in der Phantasterei nicht physisch untergehen, pwo_210.009
sondern zeigt den Weg, auf dem sein Held dem Untergang pwo_210.010
entfliehen und ein neues Leben beginnen kann; und gerade das thätige, pwo_210.011
praktische Leben, an dem Tasso unterzugehen schien, winkt ihm als pwo_210.012
Zuflucht.

pwo_210.013
"So klammert sich der Schiffer endlich noch pwo_210.014
Am Felsen fest, an dem er scheitern sollte."
pwo_210.015

Die Charakterentwicklung ist es, die den Helden hier aus Unterwürfigkeit pwo_210.016
zu sittlicher Höhe emporführt. Ein Zusammenbruch seiner Welt pwo_210.017
ist erfolgt, von ihm auch willig anerkannt und ertragen.

pwo_210.018
"Verschwunden ist der Glanz, entflohn die Ruhe. pwo_210.019
Jch kenne mich in der Gefahr nicht mehr pwo_210.020
Und schäme mich nicht mehr, es zu bekennen."
pwo_210.021

Damit ist das idealistische Charakterdrama in der That auf einen pwo_210.022
Gipfel gelangt, auf dem sein Schicksal schafft sich selbst der Mann.

pwo_210.023

Welches epische Ereignis immer das konsequente Charakterdrama pwo_210.024
übernimmt, die Charaktere müssen so angelegt oder entwickelt werden, pwo_210.025
daß die Ueberlieferung der Fabel innerlich motiviert erscheint. Wie pwo_210.026
hoch dieses klassisch-deutsche Drama sich über das klassisch-griechische pwo_210.027
erhebt, zeigt nach dieser Richtung gerade Goethes "Jphigenie". Euripides pwo_210.028
muß die dea ex machina bemühen, um das auf der Flucht pwo_210.029
ereilte Geschwisterpaar zu retten. Goethes Jphigenie ringt sich zum pwo_210.030
Zerreißen des Lügennetzes durch, in das sie sich hat verstricken lassen: pwo_210.031
nicht mehr Betrug, - die Wahrheit und die Menschlichkeit ruft sie pwo_210.032
zu ihrer Rettung an, und in diesem Zeichen siegt sie. Aehnlich darf pwo_210.033
Orest von den Rachegöttinnen nicht in der äußerlichen Art des noch pwo_210.034
tief im Epischen verharrenden antiken Dramas befreit werden; die pwo_210.035
von Apoll als heilend verheißene Berührung mit dem Bild der

pwo_210.001
„Stünd' ich, Natur! vor dir ein Mann allein, pwo_210.002
Da wär's der Mühe wert, ein Mensch zu sein.“
pwo_210.003

So sucht der Titan in der That das Schicksal zu meistern.

pwo_210.004
„Und fragt ihr mich, wer es zu Tage schafft: pwo_210.005
Begabten Manns Natur- und Geisteskraft.“
pwo_210.006

So stürmt der feurige Genius, immer durchaus auf das Handeln, pwo_210.007
nicht auf das Leiden gestellt, darein. Höchst bezeichnend läßt er seinen pwo_210.008
Tasso gegen die Geschichte in der Phantasterei nicht physisch untergehen, pwo_210.009
sondern zeigt den Weg, auf dem sein Held dem Untergang pwo_210.010
entfliehen und ein neues Leben beginnen kann; und gerade das thätige, pwo_210.011
praktische Leben, an dem Tasso unterzugehen schien, winkt ihm als pwo_210.012
Zuflucht.

pwo_210.013
„So klammert sich der Schiffer endlich noch pwo_210.014
Am Felsen fest, an dem er scheitern sollte.“
pwo_210.015

Die Charakterentwicklung ist es, die den Helden hier aus Unterwürfigkeit pwo_210.016
zu sittlicher Höhe emporführt. Ein Zusammenbruch seiner Welt pwo_210.017
ist erfolgt, von ihm auch willig anerkannt und ertragen.

pwo_210.018
„Verschwunden ist der Glanz, entflohn die Ruhe. pwo_210.019
Jch kenne mich in der Gefahr nicht mehr pwo_210.020
Und schäme mich nicht mehr, es zu bekennen.“
pwo_210.021

Damit ist das idealistische Charakterdrama in der That auf einen pwo_210.022
Gipfel gelangt, auf dem sein Schicksal schafft sich selbst der Mann.

pwo_210.023

  Welches epische Ereignis immer das konsequente Charakterdrama pwo_210.024
übernimmt, die Charaktere müssen so angelegt oder entwickelt werden, pwo_210.025
daß die Ueberlieferung der Fabel innerlich motiviert erscheint. Wie pwo_210.026
hoch dieses klassisch-deutsche Drama sich über das klassisch-griechische pwo_210.027
erhebt, zeigt nach dieser Richtung gerade Goethes „Jphigenie“. Euripides pwo_210.028
muß die dea ex machina bemühen, um das auf der Flucht pwo_210.029
ereilte Geschwisterpaar zu retten. Goethes Jphigenie ringt sich zum pwo_210.030
Zerreißen des Lügennetzes durch, in das sie sich hat verstricken lassen: pwo_210.031
nicht mehr Betrug, – die Wahrheit und die Menschlichkeit ruft sie pwo_210.032
zu ihrer Rettung an, und in diesem Zeichen siegt sie. Aehnlich darf pwo_210.033
Orest von den Rachegöttinnen nicht in der äußerlichen Art des noch pwo_210.034
tief im Epischen verharrenden antiken Dramas befreit werden; die pwo_210.035
von Apoll als heilend verheißene Berührung mit dem Bild der

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <pb facs="#f0224" n="210"/>
              <lb n="pwo_210.001"/>
              <lg>
                <l>&#x201E;Stünd' ich, Natur! vor dir ein Mann allein,</l>
                <lb n="pwo_210.002"/>
                <l>Da wär's der Mühe wert, ein Mensch zu sein.&#x201C;</l>
              </lg>
              <lb n="pwo_210.003"/>
              <p>So sucht der Titan in der That das Schicksal zu meistern.</p>
              <lb n="pwo_210.004"/>
              <lg>
                <l>&#x201E;Und fragt ihr mich, wer es zu Tage schafft:</l>
                <lb n="pwo_210.005"/>
                <l>Begabten Manns Natur- und Geisteskraft.&#x201C;</l>
              </lg>
              <lb n="pwo_210.006"/>
              <p>So stürmt der feurige Genius, immer durchaus auf das Handeln, <lb n="pwo_210.007"/>
nicht auf das Leiden gestellt, darein. Höchst bezeichnend läßt er seinen <lb n="pwo_210.008"/>
Tasso gegen die Geschichte in der Phantasterei nicht physisch untergehen, <lb n="pwo_210.009"/>
sondern zeigt den Weg, auf dem sein Held dem Untergang <lb n="pwo_210.010"/>
entfliehen und ein neues Leben beginnen kann; und gerade das thätige, <lb n="pwo_210.011"/>
praktische Leben, an dem Tasso unterzugehen schien, winkt ihm als <lb n="pwo_210.012"/>
Zuflucht.</p>
              <lb n="pwo_210.013"/>
              <lg>
                <l>&#x201E;So klammert sich der Schiffer endlich noch</l>
                <lb n="pwo_210.014"/>
                <l>Am Felsen fest, an dem er scheitern sollte.&#x201C;</l>
              </lg>
              <lb n="pwo_210.015"/>
              <p>Die Charakterentwicklung ist es, die den Helden hier aus Unterwürfigkeit <lb n="pwo_210.016"/>
zu sittlicher Höhe emporführt. Ein Zusammenbruch seiner Welt <lb n="pwo_210.017"/>
ist erfolgt, von ihm auch willig anerkannt und ertragen.</p>
              <lb n="pwo_210.018"/>
              <lg>
                <l>&#x201E;Verschwunden ist der Glanz, entflohn die Ruhe.</l>
                <lb n="pwo_210.019"/>
                <l>Jch kenne mich in der Gefahr nicht mehr</l>
                <lb n="pwo_210.020"/>
                <l>Und schäme mich nicht mehr, es zu bekennen.&#x201C;</l>
              </lg>
              <lb n="pwo_210.021"/>
              <p>Damit ist das idealistische Charakterdrama in der That auf einen <lb n="pwo_210.022"/>
Gipfel gelangt, auf dem sein Schicksal schafft sich selbst der Mann.</p>
              <lb n="pwo_210.023"/>
              <p>  Welches epische Ereignis immer das konsequente Charakterdrama <lb n="pwo_210.024"/>
übernimmt, die Charaktere müssen so angelegt oder entwickelt werden, <lb n="pwo_210.025"/>
daß die Ueberlieferung der Fabel innerlich motiviert erscheint. Wie <lb n="pwo_210.026"/>
hoch dieses klassisch-deutsche Drama sich über das klassisch-griechische <lb n="pwo_210.027"/>
erhebt, zeigt nach dieser Richtung gerade Goethes &#x201E;Jphigenie&#x201C;. Euripides <lb n="pwo_210.028"/>
muß die <hi rendition="#aq">dea ex machina</hi> bemühen, um das auf der Flucht <lb n="pwo_210.029"/>
ereilte Geschwisterpaar zu retten. Goethes Jphigenie ringt sich zum <lb n="pwo_210.030"/>
Zerreißen des Lügennetzes durch, in das sie sich hat verstricken lassen: <lb n="pwo_210.031"/>
nicht mehr Betrug, &#x2013; die Wahrheit und die Menschlichkeit ruft sie <lb n="pwo_210.032"/>
zu ihrer Rettung an, und in diesem Zeichen siegt sie. Aehnlich darf <lb n="pwo_210.033"/>
Orest von den Rachegöttinnen nicht in der äußerlichen Art des noch <lb n="pwo_210.034"/>
tief im Epischen verharrenden antiken Dramas befreit werden; die <lb n="pwo_210.035"/>
von Apoll als heilend verheißene Berührung mit dem Bild der
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[210/0224] pwo_210.001 „Stünd' ich, Natur! vor dir ein Mann allein, pwo_210.002 Da wär's der Mühe wert, ein Mensch zu sein.“ pwo_210.003 So sucht der Titan in der That das Schicksal zu meistern. pwo_210.004 „Und fragt ihr mich, wer es zu Tage schafft: pwo_210.005 Begabten Manns Natur- und Geisteskraft.“ pwo_210.006 So stürmt der feurige Genius, immer durchaus auf das Handeln, pwo_210.007 nicht auf das Leiden gestellt, darein. Höchst bezeichnend läßt er seinen pwo_210.008 Tasso gegen die Geschichte in der Phantasterei nicht physisch untergehen, pwo_210.009 sondern zeigt den Weg, auf dem sein Held dem Untergang pwo_210.010 entfliehen und ein neues Leben beginnen kann; und gerade das thätige, pwo_210.011 praktische Leben, an dem Tasso unterzugehen schien, winkt ihm als pwo_210.012 Zuflucht. pwo_210.013 „So klammert sich der Schiffer endlich noch pwo_210.014 Am Felsen fest, an dem er scheitern sollte.“ pwo_210.015 Die Charakterentwicklung ist es, die den Helden hier aus Unterwürfigkeit pwo_210.016 zu sittlicher Höhe emporführt. Ein Zusammenbruch seiner Welt pwo_210.017 ist erfolgt, von ihm auch willig anerkannt und ertragen. pwo_210.018 „Verschwunden ist der Glanz, entflohn die Ruhe. pwo_210.019 Jch kenne mich in der Gefahr nicht mehr pwo_210.020 Und schäme mich nicht mehr, es zu bekennen.“ pwo_210.021 Damit ist das idealistische Charakterdrama in der That auf einen pwo_210.022 Gipfel gelangt, auf dem sein Schicksal schafft sich selbst der Mann. pwo_210.023   Welches epische Ereignis immer das konsequente Charakterdrama pwo_210.024 übernimmt, die Charaktere müssen so angelegt oder entwickelt werden, pwo_210.025 daß die Ueberlieferung der Fabel innerlich motiviert erscheint. Wie pwo_210.026 hoch dieses klassisch-deutsche Drama sich über das klassisch-griechische pwo_210.027 erhebt, zeigt nach dieser Richtung gerade Goethes „Jphigenie“. Euripides pwo_210.028 muß die dea ex machina bemühen, um das auf der Flucht pwo_210.029 ereilte Geschwisterpaar zu retten. Goethes Jphigenie ringt sich zum pwo_210.030 Zerreißen des Lügennetzes durch, in das sie sich hat verstricken lassen: pwo_210.031 nicht mehr Betrug, – die Wahrheit und die Menschlichkeit ruft sie pwo_210.032 zu ihrer Rettung an, und in diesem Zeichen siegt sie. Aehnlich darf pwo_210.033 Orest von den Rachegöttinnen nicht in der äußerlichen Art des noch pwo_210.034 tief im Epischen verharrenden antiken Dramas befreit werden; die pwo_210.035 von Apoll als heilend verheißene Berührung mit dem Bild der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/224
Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 210. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/224>, abgerufen am 29.04.2024.