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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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Entwicklung geworden, die Linie zu finden, wo sich die uneingeschränkte pwo_216.002
Entfesselung aller physischen Mächte mit der höchsten sittlichen Freiheit pwo_216.003
berührt und versöhnt, d. i. eine höhere Einheit für die realistische und pwo_216.004
idealistische Charaktertragödie zu erringen.

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§ 84. pwo_216.006
Ueber den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen.
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Gemeinsam bleibt den verschiedenen Entwicklungsformen des pwo_216.008
Trauerspiels nach alledem nichts anderes als daß es den handelnden pwo_216.009
und unterliegenden Helden in voller Verkörperung zeigt, den dem pwo_216.010
Untergang geweihten handelnden Helden verkörpert.
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Nach dem Verhältnis des Handelns und Leidens ist die Entwicklung pwo_216.012
des Trauerspiels abgestuft.

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Ereignisse, die in der Vergangenheit liegen, sollen vor Augen pwo_216.014
gestellt werden - wie im Epos, aber durch das Mittel lebendiger pwo_216.015
Gegenwart. Die Form der Gegenwart für vergangene Ereignisse pwo_216.016
nennt die Grammatik Praesens historicum: das ist die Zeit pwo_216.017
der Tragödie.

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Eine volle Verkörperung der Ereignisse geschieht, weil nicht pwo_216.019
mehr allein die Thaten, oder allein die Empfindungen, die seelischen pwo_216.020
Neigungen vorgeführt werden, sondern zugleich Seele und Seelenäußerung pwo_216.021
durch Thaten - also der ganze Mensch.

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Der Tragiker verkörpert andre. Aber welche andren? Nicht pwo_216.023
jeden beliebigen Hinz und Kunz: zunächst die Gottheit, dann Helden pwo_216.024
oder Personen von sonst allgemeiner Bedeutung, so individuell sie pwo_216.025
schließlich gezeichnet sein mögen. Das bürgerliche Trauerspiel ersetzt, pwo_216.026
was den Personen an öffentlicher Bedeutung abgeht, wenigstens durch pwo_216.027
allgemein menschliche Bedeutung ihrer Charaktere oder Schicksale. Die pwo_216.028
Tragödie vergegenwärtigt und verkörpert demnach Wesen von allgemein pwo_216.029
menschlicher Bedeutung.

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Von dem Augenblick, wo ein Aktor dem Chor bezw. dem Evangelisten pwo_216.031
gegenübergestellt wird, wo eine Rollenverteilung eingreift, läßt pwo_216.032
der Dichter in zunehmendem Maße nach, als solcher zu sprechen: die pwo_216.033
Personen sprechen selbst, stellen sich selbst dar - der äußeren Erscheinung pwo_216.034
nach wenigstens. Dem innern Ursprung nach aber spricht pwo_216.035
der Dichter in ihrer Rolle.

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Ueber den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen.
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Trauerspiels nach alledem nichts anderes als daß es den handelnden pwo_216.009
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Nach dem Verhältnis des Handelns und Leidens ist die Entwicklung pwo_216.012
des Trauerspiels abgestuft.

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  Von dem Augenblick, wo ein Aktor dem Chor bezw. dem Evangelisten pwo_216.031
gegenübergestellt wird, wo eine Rollenverteilung eingreift, läßt pwo_216.032
der Dichter in zunehmendem Maße nach, als solcher zu sprechen: die pwo_216.033
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[216/0230] pwo_216.001 Entwicklung geworden, die Linie zu finden, wo sich die uneingeschränkte pwo_216.002 Entfesselung aller physischen Mächte mit der höchsten sittlichen Freiheit pwo_216.003 berührt und versöhnt, d. i. eine höhere Einheit für die realistische und pwo_216.004 idealistische Charaktertragödie zu erringen. pwo_216.005 § 84. pwo_216.006 Ueber den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen. pwo_216.007   Gemeinsam bleibt den verschiedenen Entwicklungsformen des pwo_216.008 Trauerspiels nach alledem nichts anderes als daß es den handelnden pwo_216.009 und unterliegenden Helden in voller Verkörperung zeigt, den dem pwo_216.010 Untergang geweihten handelnden Helden verkörpert. pwo_216.011 Nach dem Verhältnis des Handelns und Leidens ist die Entwicklung pwo_216.012 des Trauerspiels abgestuft. pwo_216.013   Ereignisse, die in der Vergangenheit liegen, sollen vor Augen pwo_216.014 gestellt werden – wie im Epos, aber durch das Mittel lebendiger pwo_216.015 Gegenwart. Die Form der Gegenwart für vergangene Ereignisse pwo_216.016 nennt die Grammatik Praesens historicum: das ist die Zeit pwo_216.017 der Tragödie. pwo_216.018   Eine volle Verkörperung der Ereignisse geschieht, weil nicht pwo_216.019 mehr allein die Thaten, oder allein die Empfindungen, die seelischen pwo_216.020 Neigungen vorgeführt werden, sondern zugleich Seele und Seelenäußerung pwo_216.021 durch Thaten – also der ganze Mensch. pwo_216.022   Der Tragiker verkörpert andre. Aber welche andren? Nicht pwo_216.023 jeden beliebigen Hinz und Kunz: zunächst die Gottheit, dann Helden pwo_216.024 oder Personen von sonst allgemeiner Bedeutung, so individuell sie pwo_216.025 schließlich gezeichnet sein mögen. Das bürgerliche Trauerspiel ersetzt, pwo_216.026 was den Personen an öffentlicher Bedeutung abgeht, wenigstens durch pwo_216.027 allgemein menschliche Bedeutung ihrer Charaktere oder Schicksale. Die pwo_216.028 Tragödie vergegenwärtigt und verkörpert demnach Wesen von allgemein pwo_216.029 menschlicher Bedeutung. pwo_216.030   Von dem Augenblick, wo ein Aktor dem Chor bezw. dem Evangelisten pwo_216.031 gegenübergestellt wird, wo eine Rollenverteilung eingreift, läßt pwo_216.032 der Dichter in zunehmendem Maße nach, als solcher zu sprechen: die pwo_216.033 Personen sprechen selbst, stellen sich selbst dar – der äußeren Erscheinung pwo_216.034 nach wenigstens. Dem innern Ursprung nach aber spricht pwo_216.035 der Dichter in ihrer Rolle.

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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/230>, abgerufen am 29.04.2024.