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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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Bei alledem wird nicht ohne weiteres klar, worin die subjektive pwo_217.002
Beteiligung des Dichters und Publikums besteht. Teilnahme an dem pwo_217.003
Leiden des Göttlichen führt zum ersten Trauerspiel; Teilnahme pwo_217.004
an dem Leiden des Ueberragenden, Gewaltigen
bleibt der pwo_217.005
Jnbegriff tragischer Wirkung. So wird beiderseits die Teilnahme an pwo_217.006
dem Helden Voraussetzung: der Dichter muß zunächst sein Jnteresse pwo_217.007
für den Helden in möglichst hohem Maße mitzuteilen, dem Publikum pwo_217.008
zu vermitteln wissen. Teilnahme für den leidenden Helden ist Mitleiden pwo_217.009
im starken verbalen Sinne, Nachfühlen seiner Leiden, pwo_217.010
Sympathie im eigentlichen Wortverstande. Das bloße "Mitleid" im pwo_217.011
heutigen abgeschliffenen Sinne des Begriffs deckt nicht völlig die Tiefe pwo_217.012
der Wirkung. Die Tragödie erregt durch lebhafte Verkörperung pwo_217.013
des leidenden bedeutsamen Wesens unser lebhaftes pwo_217.014
Mitgefühl, unser erschüttertes Mitleiden:
wiederum pwo_217.015
bewährt sich die Poesie als starker Gefühlsausdruck.

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Vergnügen im gewöhnlichen Sinne gewährt das Nachfühlen der pwo_217.017
Leiden eines andern gewiß nicht. Jmmerhin scheuen wir den Gefühlsausbruch pwo_217.018
nicht, suchen ihn vielmehr auf, selbst wo er das Leidensgefühl pwo_217.019
betrifft. Woher diese Lust am Leid?

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Jedes Weinen, jedes Ausleben des Schmerzes, bringt uns Erleichterung pwo_217.021
vom Schmerz. Jst es aber eigenes Leid, so erzielen wir nichts pwo_217.022
andres, als eine Milderung desselben, nur teilweise eine Entlastung pwo_217.023
von ihm. Selbst das Nachfühlen fremden Wehs bringt uns im Leben pwo_217.024
Unlust; der Tod eines Freundes, eines Bekannten läßt eine schmerzliche pwo_217.025
Empfindung, einen Stachel in uns zurück, selbst nachdem wir pwo_217.026
uns durch Auslassung unseres ersten Schmerzes erleichtert haben. pwo_217.027
Anders, wenn diese Leiden der andern nur in der Fiktion, in der pwo_217.028
Phantasievorstellung, unser Mitgefühl herausfordern: nun erzielen wir pwo_217.029
eine Entladung ohne eine mit dauernder Unlust verbundene Beladung, pwo_217.030
eine Entladung von den uns immanenten Leidensempfindungen, pwo_217.031
von der in uns ruhenden Wehmut über das Leid der pwo_217.032
Welt.
Daher unsere Erleichterung als tragische Wirkung, eine pwo_217.033
Erleichterung, welche der Wucht der Erschütterung entspricht. Sie pwo_217.034
aber wächst um so kräftiger an, je gewaltiger, je edler, je würdiger pwo_217.035
der Leidende vor uns tritt.

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Wo Aristoteles in seiner Poetik die Wirkung der Tragödie definiert,

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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 217. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/231>, abgerufen am 29.04.2024.