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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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Chor für die Komödie, vorher behalf man sich mit Freiwilligen ... pwo_222.002
Besondere Fabeln dichteten zuerst Epicharm und Phormis. Diese pwo_222.003
Neuerung kam somit aus Sizilien; von den attischen Dichtern begann pwo_222.004
zuerst Krates die Form der persönlichen Verspottung zu lassen und pwo_222.005
Stoffe und Fabeln allgemeiner Natur einzuführen."

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Die Komödie als Kunstform erinnert in den Anfängen ihrer pwo_222.007
Geschichte lebhaft an die Geschicke der Tragödie. Namentlich hat pwo_222.008
Kratinos, der uns als ältester unter den hervorragenden Komödiendichtern pwo_222.009
begegnet, viel Verwandtes mit Aeschylos. Er hat des Gottes, pwo_222.010
aus dessen Verherrlichung die Komödie entsprang, ersichtlich einen pwo_222.011
Hauch verspürt. Heißt doch schon der Chor der Geweihten in den pwo_222.012
"Fröschen" des Aristophanes ausdrücklich jeden vom heiligen Festreihen pwo_222.013
zurücktreten,

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"Der nicht vom stiergewalt'gen Kratin die bakchischen Weihen empfangen".
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Jndem hier ein markantes Epitheton des Dionysos wie stiergewaltig pwo_222.016
(tou taurophagou) auf Kratinos übertragen wird, erscheint er als würdigster pwo_222.017
Jünger des Dionysos-Dienstes anerkannt. Jn den "Rittern" pwo_222.018
vergleicht Aristophanes ihn einem Waldstrom, der alles mit sich fortreißt. pwo_222.019
Diese erhabene Wucht eint sich mit hohem sittlichen Ernst. pwo_222.020
Nicht nur im Stil, schon im Stoff erhebt Kratinos die Komödie aus pwo_222.021
dem niedern Bereich. Von possenhafter Behandlung der Alltäglichkeit pwo_222.022
lenkt er die Komödie auf die öffentlichen Angelegenheiten hin und pwo_222.023
giebt ihr so einen bedeutsamen Gehalt. Während der Aufbau seiner pwo_222.024
Komödien noch viel zu wünschen übrig ließ, wird Eupolis gerade pwo_222.025
wegen der echt dramatischen Einkleidung seiner Absichten gerühmt. pwo_222.026
Vor allem sollen die Dramen dieses Dichters von echt poetischer pwo_222.027
Phantasie durchweht gewesen sein. Trotzdem er als iratus gilt und pwo_222.028
die Geißel seiner Satire schonungslos schwang, hat er heitere Anmut pwo_222.029
zu erreichen verstanden. So hatte die Komik bereits eine gewisse pwo_222.030
ästhetische Schönheit gewonnen, als Aristophanes auftrat.

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Er wird zum Klassiker der Komödie, indem er durch gemütvollen, pwo_222.032
überlegenen Humor die Roheit der Posse wie die Niedrigkeit pwo_222.033
der Lieblingsmotive endgültig überwindet. Den Zustand, dem er ein pwo_222.034
Ziel setzte, schildert er mit vollem Selbstbewußtsein so wegwerfend pwo_222.035
wie möglich:

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Chor für die Komödie, vorher behalf man sich mit Freiwilligen ... pwo_222.002
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  Die Komödie als Kunstform erinnert in den Anfängen ihrer pwo_222.007
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Kratinos, der uns als ältester unter den hervorragenden Komödiendichtern pwo_222.009
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Nicht nur im Stil, schon im Stoff erhebt Kratinos die Komödie aus pwo_222.021
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  Er wird zum Klassiker der Komödie, indem er durch gemütvollen, pwo_222.032
überlegenen Humor die Roheit der Posse wie die Niedrigkeit pwo_222.033
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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/236>, abgerufen am 29.04.2024.