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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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wir, welche heitere Seite unserm ernsten Gesicht, welcher komische pwo_232.002
Beigeschmack unserm ernsten Thun und Treiben abzugewinnen ist. -

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Das spanische Lustspiel gelangt noch weniger zu individueller pwo_232.004
Charakteristik. Es bleibt Jntriguenstück im verwegensten Sinn. Gerade pwo_232.005
Lope de Vega, der unerschöpfliche Klassiker der spanischen Bühne, pwo_232.006
geht nicht sowohl auf Menschenschöpfung aus, als auf Entfaltung von pwo_232.007
interessanten, an- oder aufregenden Einzelscenen, vor allem auf kunstvolle, pwo_232.008
überraschende Verknüpfung und Entwirrung der Ereignisse. pwo_232.009
Wie er die Charaktere nebenher behandelt, hat sich kein künstlerisches pwo_232.010
Menschenbild mit seinem Namen und Ruhm vereint und verewigt: pwo_232.011
wenn wir Aristophanes nennen, denken wir an seinen Sokrates, seinen pwo_232.012
Euripides, Kleon, Dionys, Ratefreund und eine Fülle von Gestalten pwo_232.013
mehr; wenn wir Shakespeare als Komiker nennen, denken wir pwo_232.014
vor allem an Falstaff; - wer Lope de Vega nennt, denkt an das pwo_232.015
Schlagwort von den Mantel- und Degenstücken. Seine Menschen pwo_232.016
bleiben Schachfiguren, die nach kunstvoll erdachten Plänen gegen pwo_232.017
einander bewegt werden; auch bekleiden sie im allgemeinen thatsächlich pwo_232.018
nur feststehend wiederkehrende Chargen. Das Leben und den Geist pwo_232.019
seines Volkes hat das spanische Lustspiel indes gerade in den Mantel- pwo_232.020
und Degenstücken heiter gespiegelt. -

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Jhren künstlerischen Gipfel erreicht die romanische Komödie in pwo_232.022
der französischen Litteratur. Zwar lange wird hier die Entwicklung pwo_232.023
durch fremde romanische Einflüsse bestimmt. Die commedia pwo_232.024
dell' arte
beherrscht die französische Volksbühne, während sich das pwo_232.025
Renaissancedrama der Gelehrten in Nachahmung der Terenz und pwo_232.026
Plautus erschöpfte; auch die spanische Komödie wirkte herüber. Man pwo_232.027
kann nicht sagen, daß Moliere diese Abhängigkeit durch völlig selbständige pwo_232.028
Leistungen überwunden hat. Jm Gegenteil schöpft er aus pwo_232.029
allen Quellen, die auf seinem Wege flossen. Aber bedeutsam gelangt pwo_232.030
er zur Selbständigkeit, indem er gallischen Geist natürlicher Fröhlichkeit pwo_232.031
ausbreitet und Charaktertypen des französischen Lebens seiner Zeit pwo_232.032
aufgreift, denen es an einer gewissen menschlichen Allgemeingültigkeit pwo_232.033
nicht fehlt. Durch diese beiden lebendigen Mächte gelangt er über pwo_232.034
den Schulstaub des Renaissancedramas hinaus, so viel er im strengen, pwo_232.035
geschlossenen Aufbau von den antiken Mustern lernt.

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Es fehlt den Moliereschen Gestalten gewiß nicht an mancherlei

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Lope de Vega, der unerschöpfliche Klassiker der spanischen Bühne, pwo_232.006
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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/246>, abgerufen am 29.04.2024.