Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

pwo_233.001
individuellen Zügen, hat er doch nach lebenden Modellen gezeichnet. pwo_233.002
Worauf er ausgeht, bleibt aber meist das Typische, die Entfaltung pwo_233.003
einer Leidenschaft, die Blosstellung einer größeren Menschengruppe. pwo_233.004
So reflektiert und analysiert er viel, weiß aber daneben doch durch pwo_233.005
die echt dramatische Selbstdarstellung der komischen Charaktere zu pwo_233.006
wirken. Jmmerhin bleibt die Pointierung des Dialogs ein Hauptmittel pwo_233.007
Molierescher Komik.

pwo_233.008

Die Jntrigue ist es noch immer, die herrscht und dem Charakter pwo_233.009
mehr Gelegenheit, sich zu produzieren, als Macht giebt, die Handlung pwo_233.010
zu lenken. Aber, ganz anders als im spanischen Drama, ist pwo_233.011
die Handlung doch immer des Charakters wegen da; und nicht die pwo_233.012
lustige Geschichte, vielmehr der närrische Mensch ist es, von dem der pwo_233.013
Dichter ausgeht und auf den er hinzielt. Damit ist doch eine entscheidende pwo_233.014
Wendung erfolgt.

pwo_233.015

So sind es denn auch nicht sowohl die Sachen als die Menschen, pwo_233.016
die Moliere dem Gelächter preisgiebt. Bezeichnend tritt dabei pwo_233.017
hervor, daß Zielscheiben seines Spottes alle die werden, die etwas pwo_233.018
anders scheinen wollen als sie sind: der Heuchler, die Verkünstelten, pwo_233.019
die gelehrt thuenden Frauen, der eingebildete Kranke, der Bürger- pwo_233.020
Edelmann, die jungen Marquis mit hohen Prätensionen und leerem pwo_233.021
Hirn, der verliebte Alte, der reiche Geizhals - ihnen allen wird pwo_233.022
ihre lügnerische ernste Larve vom Gesicht gerissen und durch Aufdeckung pwo_233.023
des Gegensatzes eine heitere Beleuchtung gegeben. Der Dichter pwo_233.024
zeigt nicht, wie ärgerlich das Gebaren all dieser trügerischen pwo_233.025
Scheingestalten ist: er gewinnt meist den versöhnlicheren Eindruck, wie pwo_233.026
lustig für den Kenner dieses falschen Scheins die Kehrseite der Medaille pwo_233.027
ist, und macht das Publikum deshalb zu vollen Mitwissern des pwo_233.028
Gegensatzes, so daß auch sie fürder nicht sowohl Aergernis nehmen, pwo_233.029
als sich daran erheitern. Nur im "Tartuffe" und im "Misanthropen" pwo_233.030
klingt eine gewisse Bitterkeit durch. Wie die beiden Hauptgestalten pwo_233.031
des "Misanthropen" gleichmäßig an des Dichters eigenem Busen genährt pwo_233.032
sind, wohnen überhaupt zwei Seelen in seiner Brust: der pwo_233.033
Ueberdruß an dem unedlen Menschentreiben, und doch immer wieder pwo_233.034
der jeden Ekel überwindende Humor, der an der närrischen Seite dieses pwo_233.035
argen Menschentreibens seine helle Freude hat.

pwo_233.036

Durch Preisgabe dieser Unbefangenheit und naturfrischen Fröhlichkeit,

pwo_233.001
individuellen Zügen, hat er doch nach lebenden Modellen gezeichnet. pwo_233.002
Worauf er ausgeht, bleibt aber meist das Typische, die Entfaltung pwo_233.003
einer Leidenschaft, die Blosstellung einer größeren Menschengruppe. pwo_233.004
So reflektiert und analysiert er viel, weiß aber daneben doch durch pwo_233.005
die echt dramatische Selbstdarstellung der komischen Charaktere zu pwo_233.006
wirken. Jmmerhin bleibt die Pointierung des Dialogs ein Hauptmittel pwo_233.007
Molièrescher Komik.

pwo_233.008

  Die Jntrigue ist es noch immer, die herrscht und dem Charakter pwo_233.009
mehr Gelegenheit, sich zu produzieren, als Macht giebt, die Handlung pwo_233.010
zu lenken. Aber, ganz anders als im spanischen Drama, ist pwo_233.011
die Handlung doch immer des Charakters wegen da; und nicht die pwo_233.012
lustige Geschichte, vielmehr der närrische Mensch ist es, von dem der pwo_233.013
Dichter ausgeht und auf den er hinzielt. Damit ist doch eine entscheidende pwo_233.014
Wendung erfolgt.

pwo_233.015

  So sind es denn auch nicht sowohl die Sachen als die Menschen, pwo_233.016
die Molière dem Gelächter preisgiebt. Bezeichnend tritt dabei pwo_233.017
hervor, daß Zielscheiben seines Spottes alle die werden, die etwas pwo_233.018
anders scheinen wollen als sie sind: der Heuchler, die Verkünstelten, pwo_233.019
die gelehrt thuenden Frauen, der eingebildete Kranke, der Bürger- pwo_233.020
Edelmann, die jungen Marquis mit hohen Prätensionen und leerem pwo_233.021
Hirn, der verliebte Alte, der reiche Geizhals – ihnen allen wird pwo_233.022
ihre lügnerische ernste Larve vom Gesicht gerissen und durch Aufdeckung pwo_233.023
des Gegensatzes eine heitere Beleuchtung gegeben. Der Dichter pwo_233.024
zeigt nicht, wie ärgerlich das Gebaren all dieser trügerischen pwo_233.025
Scheingestalten ist: er gewinnt meist den versöhnlicheren Eindruck, wie pwo_233.026
lustig für den Kenner dieses falschen Scheins die Kehrseite der Medaille pwo_233.027
ist, und macht das Publikum deshalb zu vollen Mitwissern des pwo_233.028
Gegensatzes, so daß auch sie fürder nicht sowohl Aergernis nehmen, pwo_233.029
als sich daran erheitern. Nur im „Tartuffe“ und im „Misanthropen“ pwo_233.030
klingt eine gewisse Bitterkeit durch. Wie die beiden Hauptgestalten pwo_233.031
des „Misanthropen“ gleichmäßig an des Dichters eigenem Busen genährt pwo_233.032
sind, wohnen überhaupt zwei Seelen in seiner Brust: der pwo_233.033
Ueberdruß an dem unedlen Menschentreiben, und doch immer wieder pwo_233.034
der jeden Ekel überwindende Humor, der an der närrischen Seite dieses pwo_233.035
argen Menschentreibens seine helle Freude hat.

pwo_233.036

  Durch Preisgabe dieser Unbefangenheit und naturfrischen Fröhlichkeit,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0247" n="233"/><lb n="pwo_233.001"/>
individuellen Zügen, hat er doch nach lebenden Modellen gezeichnet. <lb n="pwo_233.002"/>
Worauf er ausgeht, bleibt aber meist das Typische, die Entfaltung <lb n="pwo_233.003"/>
einer Leidenschaft, die Blosstellung einer größeren Menschengruppe. <lb n="pwo_233.004"/>
So reflektiert und analysiert er viel, weiß aber daneben doch durch <lb n="pwo_233.005"/>
die echt dramatische Selbstdarstellung der komischen Charaktere zu <lb n="pwo_233.006"/>
wirken. Jmmerhin bleibt die Pointierung des Dialogs ein Hauptmittel <lb n="pwo_233.007"/>
Moli<hi rendition="#aq">è</hi>rescher Komik.</p>
              <lb n="pwo_233.008"/>
              <p>  Die Jntrigue ist es noch immer, die herrscht und dem Charakter <lb n="pwo_233.009"/>
mehr Gelegenheit, sich  zu produzieren, als Macht giebt, die Handlung <lb n="pwo_233.010"/>
zu lenken. Aber, ganz anders als im spanischen Drama, ist <lb n="pwo_233.011"/>
die Handlung doch immer des Charakters wegen da; und nicht die <lb n="pwo_233.012"/>
lustige Geschichte, vielmehr der närrische Mensch ist es, von dem der <lb n="pwo_233.013"/>
Dichter ausgeht und auf den er hinzielt. Damit ist doch eine entscheidende <lb n="pwo_233.014"/>
Wendung erfolgt.</p>
              <lb n="pwo_233.015"/>
              <p>  So sind es denn auch nicht sowohl die Sachen als die Menschen, <lb n="pwo_233.016"/>
die Moli<hi rendition="#aq">è</hi>re dem Gelächter preisgiebt. Bezeichnend tritt dabei <lb n="pwo_233.017"/>
hervor, daß Zielscheiben seines Spottes alle die werden, die etwas <lb n="pwo_233.018"/>
anders scheinen wollen als sie sind: der Heuchler, die Verkünstelten, <lb n="pwo_233.019"/>
die gelehrt thuenden Frauen, der eingebildete Kranke, der Bürger- <lb n="pwo_233.020"/>
Edelmann, die jungen Marquis mit hohen Prätensionen und leerem <lb n="pwo_233.021"/>
Hirn, der verliebte Alte, der reiche Geizhals &#x2013; ihnen allen wird <lb n="pwo_233.022"/>
ihre lügnerische ernste Larve vom Gesicht gerissen und durch Aufdeckung <lb n="pwo_233.023"/>
des Gegensatzes eine heitere Beleuchtung gegeben. Der Dichter <lb n="pwo_233.024"/>
zeigt nicht, wie ärgerlich das Gebaren all dieser trügerischen <lb n="pwo_233.025"/>
Scheingestalten ist: er gewinnt meist den versöhnlicheren Eindruck, wie <lb n="pwo_233.026"/>
lustig für den Kenner dieses falschen Scheins die Kehrseite der Medaille <lb n="pwo_233.027"/>
ist, und macht das Publikum deshalb zu vollen Mitwissern des <lb n="pwo_233.028"/>
Gegensatzes, so daß auch sie fürder nicht sowohl Aergernis nehmen, <lb n="pwo_233.029"/>
als sich daran erheitern. Nur im &#x201E;Tartuffe&#x201C; und im &#x201E;Misanthropen&#x201C; <lb n="pwo_233.030"/>
klingt eine gewisse Bitterkeit durch. Wie die beiden Hauptgestalten <lb n="pwo_233.031"/>
des &#x201E;Misanthropen&#x201C; gleichmäßig an des Dichters eigenem Busen genährt <lb n="pwo_233.032"/>
sind, wohnen überhaupt zwei Seelen in seiner Brust: der <lb n="pwo_233.033"/>
Ueberdruß an dem unedlen Menschentreiben, und doch immer wieder <lb n="pwo_233.034"/>
der jeden Ekel überwindende Humor, der an der närrischen Seite dieses <lb n="pwo_233.035"/>
argen Menschentreibens seine helle Freude hat.</p>
              <lb n="pwo_233.036"/>
              <p>  Durch Preisgabe dieser Unbefangenheit und naturfrischen Fröhlichkeit,
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[233/0247] pwo_233.001 individuellen Zügen, hat er doch nach lebenden Modellen gezeichnet. pwo_233.002 Worauf er ausgeht, bleibt aber meist das Typische, die Entfaltung pwo_233.003 einer Leidenschaft, die Blosstellung einer größeren Menschengruppe. pwo_233.004 So reflektiert und analysiert er viel, weiß aber daneben doch durch pwo_233.005 die echt dramatische Selbstdarstellung der komischen Charaktere zu pwo_233.006 wirken. Jmmerhin bleibt die Pointierung des Dialogs ein Hauptmittel pwo_233.007 Molièrescher Komik. pwo_233.008   Die Jntrigue ist es noch immer, die herrscht und dem Charakter pwo_233.009 mehr Gelegenheit, sich zu produzieren, als Macht giebt, die Handlung pwo_233.010 zu lenken. Aber, ganz anders als im spanischen Drama, ist pwo_233.011 die Handlung doch immer des Charakters wegen da; und nicht die pwo_233.012 lustige Geschichte, vielmehr der närrische Mensch ist es, von dem der pwo_233.013 Dichter ausgeht und auf den er hinzielt. Damit ist doch eine entscheidende pwo_233.014 Wendung erfolgt. pwo_233.015   So sind es denn auch nicht sowohl die Sachen als die Menschen, pwo_233.016 die Molière dem Gelächter preisgiebt. Bezeichnend tritt dabei pwo_233.017 hervor, daß Zielscheiben seines Spottes alle die werden, die etwas pwo_233.018 anders scheinen wollen als sie sind: der Heuchler, die Verkünstelten, pwo_233.019 die gelehrt thuenden Frauen, der eingebildete Kranke, der Bürger- pwo_233.020 Edelmann, die jungen Marquis mit hohen Prätensionen und leerem pwo_233.021 Hirn, der verliebte Alte, der reiche Geizhals – ihnen allen wird pwo_233.022 ihre lügnerische ernste Larve vom Gesicht gerissen und durch Aufdeckung pwo_233.023 des Gegensatzes eine heitere Beleuchtung gegeben. Der Dichter pwo_233.024 zeigt nicht, wie ärgerlich das Gebaren all dieser trügerischen pwo_233.025 Scheingestalten ist: er gewinnt meist den versöhnlicheren Eindruck, wie pwo_233.026 lustig für den Kenner dieses falschen Scheins die Kehrseite der Medaille pwo_233.027 ist, und macht das Publikum deshalb zu vollen Mitwissern des pwo_233.028 Gegensatzes, so daß auch sie fürder nicht sowohl Aergernis nehmen, pwo_233.029 als sich daran erheitern. Nur im „Tartuffe“ und im „Misanthropen“ pwo_233.030 klingt eine gewisse Bitterkeit durch. Wie die beiden Hauptgestalten pwo_233.031 des „Misanthropen“ gleichmäßig an des Dichters eigenem Busen genährt pwo_233.032 sind, wohnen überhaupt zwei Seelen in seiner Brust: der pwo_233.033 Ueberdruß an dem unedlen Menschentreiben, und doch immer wieder pwo_233.034 der jeden Ekel überwindende Humor, der an der närrischen Seite dieses pwo_233.035 argen Menschentreibens seine helle Freude hat. pwo_233.036   Durch Preisgabe dieser Unbefangenheit und naturfrischen Fröhlichkeit,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/247
Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 233. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/247>, abgerufen am 29.04.2024.