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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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Vertiefung des eigenen dichterischen Empfindungslebens andererseits ist pwo_249.002
die Folge. Wiederum ist der Dichter derjenige, der diese geistigen pwo_249.003
Errungenschaften zwar der ganzen Menschheit vermittelt, selbst aber pwo_249.004
allein der schöpferische Geist bleibt, der immer neue Regionen des pwo_249.005
menschlichen Herzens entdeckt, ja vorerst mit der stärkeren Energie pwo_249.006
seines Gefühlslebens immer neue, feinere Nüanzen der Empfindung pwo_249.007
in sich ausbildet.

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Der individuelle Geist.
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Noch heute gelangen manche, nur lyrisch begabte Dichter nicht pwo_249.011
über die Versenkung in den eigenen Busen und Uebertragung ihrer pwo_249.012
eigenen Empfindungswelt auf die ganze Außenwelt hinaus. Einen pwo_249.013
weiteren Schritt in der Entwicklung der Dichterseele bedeutet es offenbar, pwo_249.014
wenn sie sich ihres Gegensatzes zu andern Subjekten pwo_249.015
bewußt wird, wenn sie die Vielgestaltigkeit der menschlichen pwo_249.016
Charaktere
erkennt. Erst jetzt geht ihr das Gesetz der Jndividualitäten pwo_249.017
auf, die Ahnung völlig verschiedenartiger Bestimmungsgründe pwo_249.018
für die Handlungen der Einzelwesen. Wie sich des Dichters pwo_249.019
Geist eine energische Anschauung der Außenwelt, alsdann seiner eigenen pwo_249.020
Jnnenwelt errungen, strebt er nun in die Geheimnisse einzudringen, pwo_249.021
welche die Brust der ganzen Menschheit birgt.

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Auch diese bereichernde Erkenntnis erwirbt der Dichter natürlich pwo_249.023
nicht durch schematische Berechnung ohne Erfahrungsunterlage, sondern pwo_249.024
wiederum durch Anschauung, durch einen tiefer wühlenden Blick, dessen pwo_249.025
Ergebnisse alsdann eine Kette von Jdeenassoziationen anspinnen.

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Weiß man von jemand, er sei geizig, weiß man es nur aus pwo_249.027
einer Situation, in der man ihn beobachtete, so vermag der einigermaßen pwo_249.028
rege Geist zu erraten oder vielmehr zu übertragen, wie dieselbe pwo_249.029
Person sich in andern Situationen benimmt, wo dieselbe Schwäche pwo_249.030
herausgefordert wird. Hat die potenziert lebhafte Anschauungs- und pwo_249.031
Assoziationsgabe des Dichters also sämtliche hervorstechenden Eigenschaften pwo_249.032
eines Menschen beobachtet, so vermag sie ein volles Menschenleben pwo_249.033
in dieser Gestalt zu verkörpern. Goethe bemerkt denn auch: pwo_249.034
"Wenn ich jemanden eine Viertelstunde gesprochen habe, so will ich

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Vertiefung des eigenen dichterischen Empfindungslebens andererseits ist pwo_249.002
die Folge. Wiederum ist der Dichter derjenige, der diese geistigen pwo_249.003
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nicht durch schematische Berechnung ohne Erfahrungsunterlage, sondern pwo_249.024
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rege Geist zu erraten oder vielmehr zu übertragen, wie dieselbe pwo_249.029
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Assoziationsgabe des Dichters also sämtliche hervorstechenden Eigenschaften pwo_249.032
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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 249. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/263>, abgerufen am 16.05.2024.