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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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die Erscheinung im einzelnen thatsächlich zu erkennen und so weit pwo_253.002
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Das sinnlich ergiebigste Kennzeichen.
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Schon in der Sprachschöpfung zeigt sich der sinnfällige Trieb pwo_253.006
des Menschengeistes mächtig. Müssen wir doch auch in ihr immer pwo_253.007
unbewußte Schöpfungen von Einzelmenschen annehmen, zu dem Zwecke, pwo_253.008
Eindrücke wiederzugeben. Unbewußt zunächst sucht ebenso der Dichter pwo_253.009
seine Eindrücke zu veranschaulichen, nur daß in ihm der plastische pwo_253.010
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ist.

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Schon die Epitheta heben ein besonders eindrucksvolles Merkmal pwo_253.013
des Nomen ausschließlich hervor.

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Das was die Antiken Metonymie nannten, die Heraushebung pwo_253.015
eines augenfälligen Kennzeichens, begegnet schon in der altindischen pwo_253.016
Poesie. Vor allem schwelgt in derartigen Vorstellungen die altnordische pwo_253.017
und angelsächsische Poesie; geht doch die auffällige Erscheinung pwo_253.018
der Kenningar auf diese Vorstellung zurück.

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Spärlicher wächst die Verwendung in deutscher Sprache an. pwo_253.020
Jmmerhin begegnen solche ausdrückliche Umnennungen des Nomen pwo_253.021
sofort im Hildebrandslied gegen Schluß des Fragmentes mehrfach:

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"do laettun se aerist asckim screitan" -

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die Eschen statt der daraus gefertigten Lanzen. Aehnlich:

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"unti im iro lintaun luttilo wurtun" -

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die Linden statt der daraus gefertigten Schilde.

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für die Hölle selbst. Aus dem Nibelungenlied ist an Wendungen pwo_253.028
zu denken wie des Schildes Rand für den Schild:

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ein brünne von golde und einen guoten schildes rant" ...
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"do kom ir gesinde und truogen dar zehant pwo_253.032
von alrotem golde einen schildes rant pwo_253.033
mit stalherten spangen, michel unde breit, pwo_253.034
dar under spilen wolde diu vil minnecleiche meit."

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die Erscheinung im einzelnen thatsächlich zu erkennen und so weit pwo_253.002
möglich geschichtlich zu beleuchten.

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Das sinnlich ergiebigste Kennzeichen.
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  Schon in der Sprachschöpfung zeigt sich der sinnfällige Trieb pwo_253.006
des Menschengeistes mächtig. Müssen wir doch auch in ihr immer pwo_253.007
unbewußte Schöpfungen von Einzelmenschen annehmen, zu dem Zwecke, pwo_253.008
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ist.

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Poesie. Vor allem schwelgt in derartigen Vorstellungen die altnordische pwo_253.017
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der Kenningar auf diese Vorstellung zurück.

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  Spärlicher wächst die Verwendung in deutscher Sprache an. pwo_253.020
Jmmerhin begegnen solche ausdrückliche Umnennungen des Nomen pwo_253.021
sofort im Hildebrandslied gegen Schluß des Fragmentes mehrfach:

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„dô lættun sê ærist asckim scrîtan“ –

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die Eschen statt der daraus gefertigten Lanzen. Aehnlich:

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„unti im iro lintûn luttilo wurtun“ –

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die Linden statt der daraus gefertigten Schilde.

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  Jm Muspilli steht wiederholt das Pech, das in der Hölle brennt, pwo_253.027
für die Hölle selbst. Aus dem Nibelungenlied ist an Wendungen pwo_253.028
zu denken wie des Schildes Rand für den Schild:

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„Si hiez ir ze strîte bringen ir gewant, pwo_253.030
ein brünne von golde und einen guoten schildes rant“ ...
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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 253. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/267>, abgerufen am 15.05.2024.