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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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dringt durch. Die Bedeutsamkeit dieser neuen poetischen Wendung pwo_260.002
dürfen wir nicht unterschätzen; sagt doch Goethe geradezu,

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"Höchstes Glück der Erdenkinder pwo_260.004
Sei nur die Persönlichkeit."
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Zu seiner weiteren Vertiefung und Bereicherung strebt der Dichtergeist pwo_260.006
schließlich vom eigenen Jch dem Geist der andern zu, mit denen pwo_260.007
zu leiden, an ihnen sich zu freuen. So ergänzt sich das Selbstbewußtsein pwo_260.008
in glücklichster Weise durch Selbstentäußerung. Zu dem pwo_260.009
weihevollen Beschauen der Gottheit, der Vorfahren und der eigenen pwo_260.010
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andern.
Nach allen räumlichen und zeitlichen Dimensionen hat der pwo_260.012
Dichter somit Weihe in die Herzen der Menschheit gegossen.

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Verehrung für die Götter und Heroen schließt sich im antiken pwo_260.014
Sinne als Pietät zusammen. Selbstbewußtsein und Selbstentäußerung, pwo_260.015
Ausleben der vollen Persönlichkeit und dennoch "daß sie sich pwo_260.016
ganz vergißt und leben mag nur in andern" vereint sich zu dem Gefühl, pwo_260.017
das seit der Antike als Humanität gilt. Die Dichterseele hat pwo_260.018
der Menschheit das Höchste gegeben, indem sie ihr Religion und Geschichte, pwo_260.019
Selbstbewußtsein und Selbstentäußerung - indem sie ihr pwo_260.020
Pietät und Humanität vermittelte.

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§ 106. pwo_260.022
Rückblick und Ausblick.
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Unser Rekognoszierungszug durch die Geschichte der Weltpoesie pwo_260.024
ist vollendet: wir stehen am Ziel.

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Dürfen wir über dasselbe hinaus in die Zukunft der Poesie pwo_260.026
blicken? Manche Zeichen des Niedergangs könnten Kleingläubige befürchten pwo_260.027
lassen, daß wir am Ende aller Enden der Poesie stehen. pwo_260.028
Wir aber, die wir von einer Wanderung zurückkehren, auf welcher pwo_260.029
uns die Poesie durch die Gesamtentwicklung des menschlichen Geistes pwo_260.030
als Führerin und Bahnweiserin entgegentrat, wir dürfen die Zuversicht pwo_260.031
hegen, daß der Dichtung letzter Ton nicht früher verhallt, als pwo_260.032
das menschliche Gemüt sich des Bedürfnisses entäußert, dem Göttlichen pwo_260.033
über uns wie den Heroen vor uns sich verehrend zu nahen, sich pwo_260.034
weihevoll in die eigene Seele zu vertiefen und nach Hingabe an die pwo_260.035
Menschheit zu streben.

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der Menschheit das Höchste gegeben, indem sie ihr Religion und Geschichte, pwo_260.019
Selbstbewußtsein und Selbstentäußerung – indem sie ihr pwo_260.020
Pietät und Humanität vermittelte.

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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 260. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/274>, abgerufen am 15.05.2024.