Winkels, die manchmal, wenn die Linie groß ist, als eine Knickung derselben kurz vor der Durchschneidungsstelle erscheint (S. 147). Auch hier wird dann der Widerspruch zwischen dem Verlaufe der Linie und der Vergrößerung des spitzen Durchschneidungswinkels häufig dadurch ausgeglichen, dass die Linie perspectivisch nach der Tiefe des Raumes zu verlaufen scheint. In allen diesen Fällen kann die perspec- tivische Vorstellung nur aus der assimilirenden, Wirkung früherer Vorstellungen von der entsprechenden Beschaffen- heit erklärt werden.
10. Bei keiner der oben geschilderten Assimilationen lässt sich nachweisen, dass irgend eine früher vorhanden gewesene Vorstellung als ein Ganzes auf den neuen Eindruck assimilirend gewirkt habe. In den meisten Fällen ist dies schon dadurch ausgeschlossen, dass die assimilirende Wir- kung sehr vielen Einzelvorstellungen zugeschrieben werden muss, die sich in zahlreichen Eigenschaften von einander unterscheiden. So entspricht z. B. eine gerade Linie, die eine Verticale unter spitzem Winkel schneidet, unzähligen Fällen, in denen eine solche Neigung mit der sie begleiten- den Winkelvergrößerung als Bestandtheil einer körperlichen Vorstellung vorkam, wobei alle diese Fälle wieder in Bezug auf Größe des Winkels, Beschaffenheit der Linien und son- stige begleitende Umstände in der mannigfaltigsten Weise differiren können. Wir haben demnach den Assimilations- process als einen Vorgang aufzufassen, bei dem nicht eine bestimmte Einzelvorstellung und nicht einmal eine bestimmte Verbindung von Elementen früherer Vorstellungen, sondern bei dem in der Regel eine Menge solcher Verbindungen, die sämmtlich nur annähernd mit dem neuen Eindruck über- einzustimmen brauchen, auf das Bewusstsein einwirken.
Ueber die Art dieser Einwirkung gibt nun die wichtige Rolle, die bei dem Vorgang bestimmte an den Eindruck
III. Der Zusammenhang der psychischen Gebilde.
Winkels, die manchmal, wenn die Linie groß ist, als eine Knickung derselben kurz vor der Durchschneidungsstelle erscheint (S. 147). Auch hier wird dann der Widerspruch zwischen dem Verlaufe der Linie und der Vergrößerung des spitzen Durchschneidungswinkels häufig dadurch ausgeglichen, dass die Linie perspectivisch nach der Tiefe des Raumes zu verlaufen scheint. In allen diesen Fällen kann die perspec- tivische Vorstellung nur aus der assimilirenden, Wirkung früherer Vorstellungen von der entsprechenden Beschaffen- heit erklärt werden.
10. Bei keiner der oben geschilderten Assimilationen lässt sich nachweisen, dass irgend eine früher vorhanden gewesene Vorstellung als ein Ganzes auf den neuen Eindruck assimilirend gewirkt habe. In den meisten Fällen ist dies schon dadurch ausgeschlossen, dass die assimilirende Wir- kung sehr vielen Einzelvorstellungen zugeschrieben werden muss, die sich in zahlreichen Eigenschaften von einander unterscheiden. So entspricht z. B. eine gerade Linie, die eine Verticale unter spitzem Winkel schneidet, unzähligen Fällen, in denen eine solche Neigung mit der sie begleiten- den Winkelvergrößerung als Bestandtheil einer körperlichen Vorstellung vorkam, wobei alle diese Fälle wieder in Bezug auf Größe des Winkels, Beschaffenheit der Linien und son- stige begleitende Umstände in der mannigfaltigsten Weise differiren können. Wir haben demnach den Assimilations- process als einen Vorgang aufzufassen, bei dem nicht eine bestimmte Einzelvorstellung und nicht einmal eine bestimmte Verbindung von Elementen früherer Vorstellungen, sondern bei dem in der Regel eine Menge solcher Verbindungen, die sämmtlich nur annähernd mit dem neuen Eindruck über- einzustimmen brauchen, auf das Bewusstsein einwirken.
Ueber die Art dieser Einwirkung gibt nun die wichtige Rolle, die bei dem Vorgang bestimmte an den Eindruck
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III. Der Zusammenhang der psychischen Gebilde.
Winkels, die manchmal, wenn die Linie groß ist, als eine
Knickung derselben kurz vor der Durchschneidungsstelle
erscheint (S. 147). Auch hier wird dann der Widerspruch
zwischen dem Verlaufe der Linie und der Vergrößerung des
spitzen Durchschneidungswinkels häufig dadurch ausgeglichen,
dass die Linie perspectivisch nach der Tiefe des Raumes zu
verlaufen scheint. In allen diesen Fällen kann die perspec-
tivische Vorstellung nur aus der assimilirenden, Wirkung
früherer Vorstellungen von der entsprechenden Beschaffen-
heit erklärt werden.
10. Bei keiner der oben geschilderten Assimilationen
lässt sich nachweisen, dass irgend eine früher vorhanden
gewesene Vorstellung als ein Ganzes auf den neuen Eindruck
assimilirend gewirkt habe. In den meisten Fällen ist dies
schon dadurch ausgeschlossen, dass die assimilirende Wir-
kung sehr vielen Einzelvorstellungen zugeschrieben werden
muss, die sich in zahlreichen Eigenschaften von einander
unterscheiden. So entspricht z. B. eine gerade Linie, die
eine Verticale unter spitzem Winkel schneidet, unzähligen
Fällen, in denen eine solche Neigung mit der sie begleiten-
den Winkelvergrößerung als Bestandtheil einer körperlichen
Vorstellung vorkam, wobei alle diese Fälle wieder in Bezug
auf Größe des Winkels, Beschaffenheit der Linien und son-
stige begleitende Umstände in der mannigfaltigsten Weise
differiren können. Wir haben demnach den Assimilations-
process als einen Vorgang aufzufassen, bei dem nicht eine
bestimmte Einzelvorstellung und nicht einmal eine bestimmte
Verbindung von Elementen früherer Vorstellungen, sondern
bei dem in der Regel eine Menge solcher Verbindungen, die
sämmtlich nur annähernd mit dem neuen Eindruck über-
einzustimmen brauchen, auf das Bewusstsein einwirken.
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Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 272. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/288>, abgerufen am 16.06.2024.
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