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Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.

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werden; aber es kann nun durch Nachdenklichkeit, insbesondere pdi_341.003
durch Verallgemeinerung und Herstellung der Beziehungen, mit pdi_341.004
dem Ganzen des menschlichen Daseins in Verhältniss gesetzt und pdi_341.005
so in seinem Wesen, d. h. seiner Bedeutung verstanden werden. pdi_341.006
Erlebniss in diesem Verstande - aus ihm setzt sich alle Poesie pdi_341.007
zusammen, aus demselben bestehen die Elemente derselben wie pdi_341.008
ihre Verbindungsformen. In jeder äusseren Anschauung des pdi_341.009
Poeten wirkt lebendige, die Anschauung erfüllende und gestaltende pdi_341.010
Stimmung; er besitzt und geniesst sein eigenes Dasein in pdi_341.011
starkem Lebensgefühl, in den Schwankungen von Lust und Leid, pdi_341.012
auf dem klaren, reinen Hintergrunde der Situation, der Bilder pdi_341.013
des Daseins. Daher nennen wir eine Natur poetisch, welche, pdi_341.014
auch ohne zu schaffen, uns diese schöne Lebendigkeit immer geniessen pdi_341.015
lässt. Daher nennen wir das Werk einer anderen Kunst pdi_341.016
poetisch, dessen Seele Erlebniss, Lebendigkeit ist, die in Farben pdi_341.017
oder Linien, in plastischen Formen oder Accorden als ihren pdi_341.018
Mitteln zu uns spricht.

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Die Function der Poesie ist daher zunächst, nur auf das pdi_341.020
Primäre angesehen, dass sie diese Lebendigkeit in uns erhält, pdi_341.021
stärkt und wachruft. Zu dieser Energie des Lebensgefühls, die pdi_341.022
uns in den schönsten Augenblicken erfüllt, dieser Innigkeit des pdi_341.023
Blicks, durch welche wir die Welt geniessen, führt uns die pdi_341.024
Poesie beständig zurück. Während wir in unsrer wirklichen pdi_341.025
Existenz zwischen Begehren und Genuss in unruhigem Wechsel pdi_341.026
sind und das sich ausathmende Glück nur ein seltener Festtag pdi_341.027
dieser Existenz ist: erscheint der Dichter, bringt uns diese Gesundheit pdi_341.028
des Lebens, gewährt uns durch seine Gebilde solche pdi_341.029
lang dauernde Befriedigung, ohne bitteren Nachgeschmack, und pdi_341.030
lehrt uns, so zu fühlen und so die ganze Welt als Erlebniss zu pdi_341.031
geniessen: in allem Diesem der volle, ganze, gesunde Mensch.

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3. Diese Function ist durch die grössere Energie pdi_341.033
gewisser seelischer Vorgänge bedingt.
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Diese wie jede andere Function eines Menschen oder einer pdi_341.035
Classe von Menschen in der Gesellschaft ist nicht das Ergebniss

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erfasst wird. Es kann nie in Gedanken oder Idee aufgelöst pdi_341.002
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Mitteln zu uns spricht.

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  Die Function der Poesie ist daher zunächst, nur auf das pdi_341.020
Primäre angesehen, dass sie diese Lebendigkeit in uns erhält, pdi_341.021
stärkt und wachruft. Zu dieser Energie des Lebensgefühls, die pdi_341.022
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gewisser seelischer Vorgänge bedingt.
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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482, hier S. 341. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/43>, abgerufen am 26.04.2024.