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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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ihres Standes und zucken die Achseln über das niedrige Volk, das gar keine
Lebensart mehr hat. In dieser Stimmung und in ähnlichen scheint uns der
ganze Schlüssel zu dem Labyrinth der östreichischen Politik zu liegen, nicht in
einem tief versteckten Hintergedanken.

Nachdem der Verfasser ganz richtig nachgewiesen, daß der italienische Con¬
flict zwar von Napoleon ausgebeutet wurde, weil er die Armee beschäftigen
mußte, aber keineswegs erfunden; daß er vielmehr das nothwendige Resultat
der Mettcvnichschcn Politik war, geht er aus die deutschen Stimmungen wäh¬
rend desselben über, und weist die Umstände nach, aus denen es sich erklärt,
daß die Verwandtschaft der italienischen und deutschen Bestrebungen nicht deut¬
licher hervortrat.

"Es ist wahr, die Staatenordnung Europas ist nicht erbaut auf dem Recht
der Nationalität und kann nicht darauf erbaut werden. Volksindividuen, die
historisch verlebt oder zur selbstständigen politischen Existenz zu schwach sind,
müssen sich bescheiden, Glieder eines großem Staatskörpers zu sein. Die
Geschichte hat ihnen diese Lage nicht willkürlich, sondern nach dem Maß ihrer
Kraft und nach dem Bedürfniß der europäischen Staatcnsamilie bestimmt, und
kein nationales Dogma wird ihnen zur Selbständigkeit verhelfen. Andern
Völkern macht ihre Größe, ihre Lage, ihre Entwicklung ein höheres Maß von
nationaler Concentration erreichbar, als der bisherige Gang der Dinge ihnen
gewährte. Sie wird kein historisches Dogma an dem Fortschritt verhindern,
denn die Geschichte ist ein Werden; wenn im Strom dieses Werdens sich ihre
sittliche, ihre politische Kraft erfrischt, so werden sie ringen, bis sie aus der
"geschichtlichen Ordnung" sich losgerungen haben, und an die Stelle des jetzi¬
gen historischen Rechts wird ein anderes nach Decennien nicht minder histo¬
risches treten. In diesem Ringkampf werden die andern Staaten hemmend,
fördernd je nach ihrem Interesse eingreifen; aber niemals wird ein Staat,
wenn sein politisches Urtheil nicht vergiftet ist durch heillose Dogmen, für seine
Handlungsweise noch etwas anderes in Berechnung ziehn, als dieses sein Inter¬
esse, niemals wird er seine Kräfte vergeuden zum Kampf gegen das Prinzip
der Nationalität, auch dann nicht, wenn es im Munde eines Gewalthabers
moralische Indignation erregt."

Wenn die feudale Partei den Kampf gegen das Princip in den Vorder¬
grund stellte, so hatte sie dazu ihre guten Gründe. "Der Feudale, wenn sein
Herz nicht siegt über seine Kastenidee, ist heimatlos wie jeder Ritter, ist Kos¬
mopolit wie der französische Socialist, ist sich selbst Zweck wie der römische
Clerus. Er treibt auch Interessenpolitik. Seine Dogmen sind die Umhüllung
seiner Interessen. Wo die Landbevölkerung abhängig ist vom Gutsherrn,
Dorf- und Stadtgemeinde ohne Selbstregierung sind, wo die Adelscorporation
allein dieses Recht und in der Vertretung der Provinz und des Landes den


ihres Standes und zucken die Achseln über das niedrige Volk, das gar keine
Lebensart mehr hat. In dieser Stimmung und in ähnlichen scheint uns der
ganze Schlüssel zu dem Labyrinth der östreichischen Politik zu liegen, nicht in
einem tief versteckten Hintergedanken.

Nachdem der Verfasser ganz richtig nachgewiesen, daß der italienische Con¬
flict zwar von Napoleon ausgebeutet wurde, weil er die Armee beschäftigen
mußte, aber keineswegs erfunden; daß er vielmehr das nothwendige Resultat
der Mettcvnichschcn Politik war, geht er aus die deutschen Stimmungen wäh¬
rend desselben über, und weist die Umstände nach, aus denen es sich erklärt,
daß die Verwandtschaft der italienischen und deutschen Bestrebungen nicht deut¬
licher hervortrat.

„Es ist wahr, die Staatenordnung Europas ist nicht erbaut auf dem Recht
der Nationalität und kann nicht darauf erbaut werden. Volksindividuen, die
historisch verlebt oder zur selbstständigen politischen Existenz zu schwach sind,
müssen sich bescheiden, Glieder eines großem Staatskörpers zu sein. Die
Geschichte hat ihnen diese Lage nicht willkürlich, sondern nach dem Maß ihrer
Kraft und nach dem Bedürfniß der europäischen Staatcnsamilie bestimmt, und
kein nationales Dogma wird ihnen zur Selbständigkeit verhelfen. Andern
Völkern macht ihre Größe, ihre Lage, ihre Entwicklung ein höheres Maß von
nationaler Concentration erreichbar, als der bisherige Gang der Dinge ihnen
gewährte. Sie wird kein historisches Dogma an dem Fortschritt verhindern,
denn die Geschichte ist ein Werden; wenn im Strom dieses Werdens sich ihre
sittliche, ihre politische Kraft erfrischt, so werden sie ringen, bis sie aus der
„geschichtlichen Ordnung" sich losgerungen haben, und an die Stelle des jetzi¬
gen historischen Rechts wird ein anderes nach Decennien nicht minder histo¬
risches treten. In diesem Ringkampf werden die andern Staaten hemmend,
fördernd je nach ihrem Interesse eingreifen; aber niemals wird ein Staat,
wenn sein politisches Urtheil nicht vergiftet ist durch heillose Dogmen, für seine
Handlungsweise noch etwas anderes in Berechnung ziehn, als dieses sein Inter¬
esse, niemals wird er seine Kräfte vergeuden zum Kampf gegen das Prinzip
der Nationalität, auch dann nicht, wenn es im Munde eines Gewalthabers
moralische Indignation erregt."

Wenn die feudale Partei den Kampf gegen das Princip in den Vorder¬
grund stellte, so hatte sie dazu ihre guten Gründe. „Der Feudale, wenn sein
Herz nicht siegt über seine Kastenidee, ist heimatlos wie jeder Ritter, ist Kos¬
mopolit wie der französische Socialist, ist sich selbst Zweck wie der römische
Clerus. Er treibt auch Interessenpolitik. Seine Dogmen sind die Umhüllung
seiner Interessen. Wo die Landbevölkerung abhängig ist vom Gutsherrn,
Dorf- und Stadtgemeinde ohne Selbstregierung sind, wo die Adelscorporation
allein dieses Recht und in der Vertretung der Provinz und des Landes den


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[0374] ihres Standes und zucken die Achseln über das niedrige Volk, das gar keine Lebensart mehr hat. In dieser Stimmung und in ähnlichen scheint uns der ganze Schlüssel zu dem Labyrinth der östreichischen Politik zu liegen, nicht in einem tief versteckten Hintergedanken. Nachdem der Verfasser ganz richtig nachgewiesen, daß der italienische Con¬ flict zwar von Napoleon ausgebeutet wurde, weil er die Armee beschäftigen mußte, aber keineswegs erfunden; daß er vielmehr das nothwendige Resultat der Mettcvnichschcn Politik war, geht er aus die deutschen Stimmungen wäh¬ rend desselben über, und weist die Umstände nach, aus denen es sich erklärt, daß die Verwandtschaft der italienischen und deutschen Bestrebungen nicht deut¬ licher hervortrat. „Es ist wahr, die Staatenordnung Europas ist nicht erbaut auf dem Recht der Nationalität und kann nicht darauf erbaut werden. Volksindividuen, die historisch verlebt oder zur selbstständigen politischen Existenz zu schwach sind, müssen sich bescheiden, Glieder eines großem Staatskörpers zu sein. Die Geschichte hat ihnen diese Lage nicht willkürlich, sondern nach dem Maß ihrer Kraft und nach dem Bedürfniß der europäischen Staatcnsamilie bestimmt, und kein nationales Dogma wird ihnen zur Selbständigkeit verhelfen. Andern Völkern macht ihre Größe, ihre Lage, ihre Entwicklung ein höheres Maß von nationaler Concentration erreichbar, als der bisherige Gang der Dinge ihnen gewährte. Sie wird kein historisches Dogma an dem Fortschritt verhindern, denn die Geschichte ist ein Werden; wenn im Strom dieses Werdens sich ihre sittliche, ihre politische Kraft erfrischt, so werden sie ringen, bis sie aus der „geschichtlichen Ordnung" sich losgerungen haben, und an die Stelle des jetzi¬ gen historischen Rechts wird ein anderes nach Decennien nicht minder histo¬ risches treten. In diesem Ringkampf werden die andern Staaten hemmend, fördernd je nach ihrem Interesse eingreifen; aber niemals wird ein Staat, wenn sein politisches Urtheil nicht vergiftet ist durch heillose Dogmen, für seine Handlungsweise noch etwas anderes in Berechnung ziehn, als dieses sein Inter¬ esse, niemals wird er seine Kräfte vergeuden zum Kampf gegen das Prinzip der Nationalität, auch dann nicht, wenn es im Munde eines Gewalthabers moralische Indignation erregt." Wenn die feudale Partei den Kampf gegen das Princip in den Vorder¬ grund stellte, so hatte sie dazu ihre guten Gründe. „Der Feudale, wenn sein Herz nicht siegt über seine Kastenidee, ist heimatlos wie jeder Ritter, ist Kos¬ mopolit wie der französische Socialist, ist sich selbst Zweck wie der römische Clerus. Er treibt auch Interessenpolitik. Seine Dogmen sind die Umhüllung seiner Interessen. Wo die Landbevölkerung abhängig ist vom Gutsherrn, Dorf- und Stadtgemeinde ohne Selbstregierung sind, wo die Adelscorporation allein dieses Recht und in der Vertretung der Provinz und des Landes den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/374>, abgerufen am 01.11.2024.