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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Die Stadt Banausos.

"Aus der Rektoratsrede des Herrn Professur Ad/Kirchhofs wird dessen
Klage hervorgehoben, daß das Banaustertum immer mehr eindringe in
das Studium der alten Philologie. Da auch Professor Dr. von Schulte in
Bonn dieselbe Klage erhebt in bezug auf das Studium der Jurisprudenz, so
wird durch diese beiden Gelehrten Herr Professor A. W. Hofmann in Berlin
widerlegt, der die Zulassung der Rcalschulabiturienten zum Universitütsstudium
für das in demselben hervortretende Banaustertum verantwortlich machen wollte,
denn alte Philologie und Jurisprudenz sind ja den Rcalschulabiturienten ver¬
schlossen."

Keinem wird die unwiderlegliche Schärfe dieser Beweisführung entgehen.
Sachlich haben wir nur zu bemerken, daß "Banausier" offenbar von einer Stadt
BanausoS (oder Banauson) herkommt, hier also nicht etwa jene griechischen
Banausen gemeint sind, von denen es im Aristotelischen "Staate" (8, 2, 1)
heißt: "Für banausisch ist jede Thätigkeit, Kunst oder Wissenschaft anzusehen,
welche den Körper, die Seele oder den Verstand freier Männer zur Ausübung
der Tugend unfähig macht. Darum nennt man derartige Künste banausisch,
soweit sie den Zustand des Leibes verschlechtern."

Und zu dieser unsrer geographischen Unwissenheit kommt noch ein zweites
Unglück. Wir können die Rede Kirchhoffs, auf die sich der Verfasser bezieht,
nicht finden. Unmöglich kann nämlich die schöne Rektoratsrede aus dem Jahre
1883 gemeint sein, in welcher der große Gelehrte, der zwanzig Jahre Gym¬
nasiallehrer gewesen war, ehe er in seine jetzige Stellung überging, seine durch
lange Jahre ernster Arbeit gewonnene Überzeugung in folgenden Sätzen (S. 12)
zusammenfaßt.

"Zunächst ist der Versuch gemacht worden, dem anerkannten Bedürfnis in
der Form zu genügen, daß man neben dem alten Bildungsideal ein zweites
neues aufgestellt und zu seiner Verwirklichung eine besondre Art höherer Schulen
organisirt hat, in denen unter Eliminirung des Griechischen und teilweiser oder
gänzlicher Beseitigung des Lateinischen der Unterricht in der Mathematik und
den Naturwissenschaften neben dem in den Sprachen der modernen Kulturvölker
als hauptsächliches Bildungsmittel zur Anwendung gelangt, und welche gegen¬
über den alten Gymnasien als Realschulen, neuerdings als Realgymnasien,
charcckterisirt zu werden pflegen. Demgemäß werden unter staatlicher Autorität
der Nachfrage des beteiligten Publikums zwei Sorten von Bildung offerirt,
zwischen denen es nach Belieben seine Auswahl treffen kann; zwischen beiden
und ihren Vertriebsanstalten wogt der Kampf der Konkurrenz, angeblich um
Gleichberechtigung, in Wirklichkeit, bewußt oder unbewußt, um Alleinherrschaft,
wenigstens von der einen Seite; denn das Neue hegt, wie immer, übertriebene
Vorstellungen von der eignen Vortrefflichkeit und hat die Energie der Offen¬
sive für sich. Es ist indessen einleuchtend, daß dieser Dualismus auf Kriegs¬
fuß keinen normalen Zustand darstellt, sondern lediglich ein Übergangsstadium


Grenzboten I. 188L. 11
Die Stadt Banausos.

„Aus der Rektoratsrede des Herrn Professur Ad/Kirchhofs wird dessen
Klage hervorgehoben, daß das Banaustertum immer mehr eindringe in
das Studium der alten Philologie. Da auch Professor Dr. von Schulte in
Bonn dieselbe Klage erhebt in bezug auf das Studium der Jurisprudenz, so
wird durch diese beiden Gelehrten Herr Professor A. W. Hofmann in Berlin
widerlegt, der die Zulassung der Rcalschulabiturienten zum Universitütsstudium
für das in demselben hervortretende Banaustertum verantwortlich machen wollte,
denn alte Philologie und Jurisprudenz sind ja den Rcalschulabiturienten ver¬
schlossen."

Keinem wird die unwiderlegliche Schärfe dieser Beweisführung entgehen.
Sachlich haben wir nur zu bemerken, daß „Banausier" offenbar von einer Stadt
BanausoS (oder Banauson) herkommt, hier also nicht etwa jene griechischen
Banausen gemeint sind, von denen es im Aristotelischen „Staate" (8, 2, 1)
heißt: „Für banausisch ist jede Thätigkeit, Kunst oder Wissenschaft anzusehen,
welche den Körper, die Seele oder den Verstand freier Männer zur Ausübung
der Tugend unfähig macht. Darum nennt man derartige Künste banausisch,
soweit sie den Zustand des Leibes verschlechtern."

Und zu dieser unsrer geographischen Unwissenheit kommt noch ein zweites
Unglück. Wir können die Rede Kirchhoffs, auf die sich der Verfasser bezieht,
nicht finden. Unmöglich kann nämlich die schöne Rektoratsrede aus dem Jahre
1883 gemeint sein, in welcher der große Gelehrte, der zwanzig Jahre Gym¬
nasiallehrer gewesen war, ehe er in seine jetzige Stellung überging, seine durch
lange Jahre ernster Arbeit gewonnene Überzeugung in folgenden Sätzen (S. 12)
zusammenfaßt.

„Zunächst ist der Versuch gemacht worden, dem anerkannten Bedürfnis in
der Form zu genügen, daß man neben dem alten Bildungsideal ein zweites
neues aufgestellt und zu seiner Verwirklichung eine besondre Art höherer Schulen
organisirt hat, in denen unter Eliminirung des Griechischen und teilweiser oder
gänzlicher Beseitigung des Lateinischen der Unterricht in der Mathematik und
den Naturwissenschaften neben dem in den Sprachen der modernen Kulturvölker
als hauptsächliches Bildungsmittel zur Anwendung gelangt, und welche gegen¬
über den alten Gymnasien als Realschulen, neuerdings als Realgymnasien,
charcckterisirt zu werden pflegen. Demgemäß werden unter staatlicher Autorität
der Nachfrage des beteiligten Publikums zwei Sorten von Bildung offerirt,
zwischen denen es nach Belieben seine Auswahl treffen kann; zwischen beiden
und ihren Vertriebsanstalten wogt der Kampf der Konkurrenz, angeblich um
Gleichberechtigung, in Wirklichkeit, bewußt oder unbewußt, um Alleinherrschaft,
wenigstens von der einen Seite; denn das Neue hegt, wie immer, übertriebene
Vorstellungen von der eignen Vortrefflichkeit und hat die Energie der Offen¬
sive für sich. Es ist indessen einleuchtend, daß dieser Dualismus auf Kriegs¬
fuß keinen normalen Zustand darstellt, sondern lediglich ein Übergangsstadium


Grenzboten I. 188L. 11
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[0093] Die Stadt Banausos. „Aus der Rektoratsrede des Herrn Professur Ad/Kirchhofs wird dessen Klage hervorgehoben, daß das Banaustertum immer mehr eindringe in das Studium der alten Philologie. Da auch Professor Dr. von Schulte in Bonn dieselbe Klage erhebt in bezug auf das Studium der Jurisprudenz, so wird durch diese beiden Gelehrten Herr Professor A. W. Hofmann in Berlin widerlegt, der die Zulassung der Rcalschulabiturienten zum Universitütsstudium für das in demselben hervortretende Banaustertum verantwortlich machen wollte, denn alte Philologie und Jurisprudenz sind ja den Rcalschulabiturienten ver¬ schlossen." Keinem wird die unwiderlegliche Schärfe dieser Beweisführung entgehen. Sachlich haben wir nur zu bemerken, daß „Banausier" offenbar von einer Stadt BanausoS (oder Banauson) herkommt, hier also nicht etwa jene griechischen Banausen gemeint sind, von denen es im Aristotelischen „Staate" (8, 2, 1) heißt: „Für banausisch ist jede Thätigkeit, Kunst oder Wissenschaft anzusehen, welche den Körper, die Seele oder den Verstand freier Männer zur Ausübung der Tugend unfähig macht. Darum nennt man derartige Künste banausisch, soweit sie den Zustand des Leibes verschlechtern." Und zu dieser unsrer geographischen Unwissenheit kommt noch ein zweites Unglück. Wir können die Rede Kirchhoffs, auf die sich der Verfasser bezieht, nicht finden. Unmöglich kann nämlich die schöne Rektoratsrede aus dem Jahre 1883 gemeint sein, in welcher der große Gelehrte, der zwanzig Jahre Gym¬ nasiallehrer gewesen war, ehe er in seine jetzige Stellung überging, seine durch lange Jahre ernster Arbeit gewonnene Überzeugung in folgenden Sätzen (S. 12) zusammenfaßt. „Zunächst ist der Versuch gemacht worden, dem anerkannten Bedürfnis in der Form zu genügen, daß man neben dem alten Bildungsideal ein zweites neues aufgestellt und zu seiner Verwirklichung eine besondre Art höherer Schulen organisirt hat, in denen unter Eliminirung des Griechischen und teilweiser oder gänzlicher Beseitigung des Lateinischen der Unterricht in der Mathematik und den Naturwissenschaften neben dem in den Sprachen der modernen Kulturvölker als hauptsächliches Bildungsmittel zur Anwendung gelangt, und welche gegen¬ über den alten Gymnasien als Realschulen, neuerdings als Realgymnasien, charcckterisirt zu werden pflegen. Demgemäß werden unter staatlicher Autorität der Nachfrage des beteiligten Publikums zwei Sorten von Bildung offerirt, zwischen denen es nach Belieben seine Auswahl treffen kann; zwischen beiden und ihren Vertriebsanstalten wogt der Kampf der Konkurrenz, angeblich um Gleichberechtigung, in Wirklichkeit, bewußt oder unbewußt, um Alleinherrschaft, wenigstens von der einen Seite; denn das Neue hegt, wie immer, übertriebene Vorstellungen von der eignen Vortrefflichkeit und hat die Energie der Offen¬ sive für sich. Es ist indessen einleuchtend, daß dieser Dualismus auf Kriegs¬ fuß keinen normalen Zustand darstellt, sondern lediglich ein Übergangsstadium Grenzboten I. 188L. 11

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/93>, abgerufen am 01.11.2024.