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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Ans der Strafrochtspflege.

Gebieten des Rechtslebens, und wer Augen hat zu sehen, wer die Rechtspflege
nicht für ein Kräutchen "Ruhr mich nicht an" hält, das außerhalb des Be¬
reiches der kritischen Betrachtung steht, kann sie leicht wahrnehmen. Vielleicht
hat kein Teil der Rechtspflege unter ihnen in dem Maße zu leiden wie die
Strafrechtspflege, vielleicht sind die verhängnisvollen Folgen dieser Einseitigkeit
nirgends in dem Grade verkörpert wie in den milden Strafen, die sich bekanntlich
in jeder Beziehung als ungeeignet und unzweckmäßig erwiesen haben. Es ist
kein Zufall, daß die einseitige privatrechtliche Ausbildung zeitlich mit der Schwäche
und Matthcrzigteit unsrer Strafrechtspflege zusammentrifft, es ist kein Zufall,
daß das juristische Geschlecht, welches sich ausschließlich im Privatrecht aus¬
bildet, von dem öffentlichen Recht und den Staatswissenschaften hingegen mit
ehrfurchtsvollem Schauer fern hält, Strafen verhängt, welche auf die gesell¬
schaftlichen Bedürfnisse passen wie die Faust aufs Auge, sondern zwischen beiden
Erscheinungen besteht ein ursächlicher Zusammenhang. Die privatrechtliche Ein¬
seitigkeit bringt es mit sich, daß der Richter die Bestrafung der Verbrechen
unter privatrechtlichen Gesichtspunkten vornimmt, sie führt dazu, daß er für den
Zusammenhang, in welchem jede strafbare Handlung mit den Lebcnsciußernugen
des Gcsellschaftskörpers steht, für die Abhängigkeit der Verbrechen von dem Stande
der wirtschaftlichen Verhältnisse kein Verständnis besitzt, und daß die so ver¬
schiedenartige Schutzbedürftigkeit der gesellschaftlichen Interessen und Nechtsgüter
keine Beachtung bei ihm genießt, die Einseitigkeit seiner Bildung macht ihn
schließlich unfähig, die öffentlich-rechtlichen Verhältnisse unter einem andern Ge¬
sichtspunkte zu betrachten als den" ihm vertraut gewordenen. So erklärt es
sich, wenn bei Ausmessung der Strafen die gesellschaftlichen Interessen und
Nechtsgüter in einer Weise geschätzt und gewürdigt werden, die alles eher als
Zufriedenheit und Genugthuung hervorrufen kann. Wer sich für die Ergebnisse
der Strafjustiz auch nur einigermaßen interessirt, weiß, daß seit Jahren die Milde
der Urteile zu den bittersten Vorwürfen Anlaß giebt.

Es ist nun sehr bemerkenswert, daß sich bei der Bestrafung ein sehr wichtiger
Unterschied mit großer Bestimmtheit geltend macht; wenn es die Bestrafung von
Handlungen gilt, die einen Angriff und eine Verletzung des Vermögens ent¬
halten, werden im allgemeinen Strafen ausgesprochen, denen man nicht den
Vorwurf entgegenhalten kann, daß sie es an ernster Strenge fehlen ließen.
Die Strafen, welchen der Diebstahl, die Unterschlagung, der Raub, der Betrug,
die Hehlerei u. s. w. unterliegt, geben im allgemeinen keinen Grund zur Un¬
zufriedenheit und bleiben hinter den in England und Frankreich wegen dieser
Verbrechen verhängten Strafen nicht wesentlich zurück. Damit soll keineswegs be¬
hauptet werden, daß die Beschützung der Gesellschaft gegen diese Verbrechen schlecht¬
hin zufriedenstellend sei. So lange es möglich ist, daß ein zum fünfunddreißigsten
male bestrafter Dieb zu eiuer kurzen Strafe verurteilt wird, um nach Verbüßung
derselben wieder auf die Gesellschaft losgelassen zu werden, während seine dauernde


Ans der Strafrochtspflege.

Gebieten des Rechtslebens, und wer Augen hat zu sehen, wer die Rechtspflege
nicht für ein Kräutchen „Ruhr mich nicht an" hält, das außerhalb des Be¬
reiches der kritischen Betrachtung steht, kann sie leicht wahrnehmen. Vielleicht
hat kein Teil der Rechtspflege unter ihnen in dem Maße zu leiden wie die
Strafrechtspflege, vielleicht sind die verhängnisvollen Folgen dieser Einseitigkeit
nirgends in dem Grade verkörpert wie in den milden Strafen, die sich bekanntlich
in jeder Beziehung als ungeeignet und unzweckmäßig erwiesen haben. Es ist
kein Zufall, daß die einseitige privatrechtliche Ausbildung zeitlich mit der Schwäche
und Matthcrzigteit unsrer Strafrechtspflege zusammentrifft, es ist kein Zufall,
daß das juristische Geschlecht, welches sich ausschließlich im Privatrecht aus¬
bildet, von dem öffentlichen Recht und den Staatswissenschaften hingegen mit
ehrfurchtsvollem Schauer fern hält, Strafen verhängt, welche auf die gesell¬
schaftlichen Bedürfnisse passen wie die Faust aufs Auge, sondern zwischen beiden
Erscheinungen besteht ein ursächlicher Zusammenhang. Die privatrechtliche Ein¬
seitigkeit bringt es mit sich, daß der Richter die Bestrafung der Verbrechen
unter privatrechtlichen Gesichtspunkten vornimmt, sie führt dazu, daß er für den
Zusammenhang, in welchem jede strafbare Handlung mit den Lebcnsciußernugen
des Gcsellschaftskörpers steht, für die Abhängigkeit der Verbrechen von dem Stande
der wirtschaftlichen Verhältnisse kein Verständnis besitzt, und daß die so ver¬
schiedenartige Schutzbedürftigkeit der gesellschaftlichen Interessen und Nechtsgüter
keine Beachtung bei ihm genießt, die Einseitigkeit seiner Bildung macht ihn
schließlich unfähig, die öffentlich-rechtlichen Verhältnisse unter einem andern Ge¬
sichtspunkte zu betrachten als den« ihm vertraut gewordenen. So erklärt es
sich, wenn bei Ausmessung der Strafen die gesellschaftlichen Interessen und
Nechtsgüter in einer Weise geschätzt und gewürdigt werden, die alles eher als
Zufriedenheit und Genugthuung hervorrufen kann. Wer sich für die Ergebnisse
der Strafjustiz auch nur einigermaßen interessirt, weiß, daß seit Jahren die Milde
der Urteile zu den bittersten Vorwürfen Anlaß giebt.

Es ist nun sehr bemerkenswert, daß sich bei der Bestrafung ein sehr wichtiger
Unterschied mit großer Bestimmtheit geltend macht; wenn es die Bestrafung von
Handlungen gilt, die einen Angriff und eine Verletzung des Vermögens ent¬
halten, werden im allgemeinen Strafen ausgesprochen, denen man nicht den
Vorwurf entgegenhalten kann, daß sie es an ernster Strenge fehlen ließen.
Die Strafen, welchen der Diebstahl, die Unterschlagung, der Raub, der Betrug,
die Hehlerei u. s. w. unterliegt, geben im allgemeinen keinen Grund zur Un¬
zufriedenheit und bleiben hinter den in England und Frankreich wegen dieser
Verbrechen verhängten Strafen nicht wesentlich zurück. Damit soll keineswegs be¬
hauptet werden, daß die Beschützung der Gesellschaft gegen diese Verbrechen schlecht¬
hin zufriedenstellend sei. So lange es möglich ist, daß ein zum fünfunddreißigsten
male bestrafter Dieb zu eiuer kurzen Strafe verurteilt wird, um nach Verbüßung
derselben wieder auf die Gesellschaft losgelassen zu werden, während seine dauernde


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/226>, abgerufen am 31.10.2024.