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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Die nationalliberale Partei

l uf den 1. Februar hat die nationalliberale Partei eine Sitzung
ihres Zentralvorstandes nach Berlin einberufen; es soll u. a.
auch über den nächsten Delegiertentag, für den Hannover in Aus¬
sicht genommen ist, Beschluß gefaßt werden. Wegen des Aus-
M^llgaugs der Zolltarifdebatten im Reichstag und der begonnenen
Vorbereitungen für die Neuwahlen sind beide Berscimmluugcu nicht ohne
Bedeutung und Tragweite. Das Reich sowohl wie der Reichstag, beide be¬
dürfen dringend einer Erstarkung der nationalliberalcn Partei. Die Partei-
Verhältnisse, wie sie im Reichstage liegen, sind ungesund, und eine Reichs¬
politik, die gezwungen ist, sich auf sie zu stützen und ihnen ihre Erwägungen
und Maßnahmen unterzuordnen, kann beim besten Willen nicht Wege gehn,
die von, Standpunkt der Gründung und der Entwicklung des Reichs als
normal gelten können. Das Wort: "Der deutsche Kaiser und der deutsche
Reichstag siud an einem Tage geboren" hat auch eine eruste Nebenbedeutung:
mit dem Sinken des Ansehens des Reichstags ist unabweisbar ein Sinken des
Reichsgedankens verbunden. Die Kraft einer starken Monarchie kann dem
vielleicht noch lange ^eit Einhalt tun, sie wird es aber zuletzt uur durch
Mittel können, die den Wünschen einer uationalliberalen Parder acht ent¬
sprechen. Es kommt aber noch mehr in Betracht. Die Einheit und tue Kraft
unsrer auswärtigen Aktionen leiden darunter, wenn das Ausland weiß, daß
hinter der Regierung nicht ein von dem ganzen Stolze des nationalen Be¬
wußtseins erfüllter und getragner Reichstag steht. Man denke an die Jnter¬
pellation Bennigsen vom 1. April 1867. Die natioualliberale Partei wird
"tho gut tun. alle Reichstagswahlkreise einer sorgfältigen Prüfung auf die zu
ermöglichenden Ergebnisse hin zu unterziehn und überall da, wo ein Erfolgnicht gänzlich aussichtslos ist. mit voller, zäher Energie in den Wahlkampf ein-
zutreten. Selbstverständlich kommt für die Wahlkreise, in denen Kandidaturen
der beiden konservativen Parteien mit den Nationalliberalen in Wettbewerb
stehn, die Rücksicht auf die Verbündeten im Zolltarifkampf in Betracht, tue
hoffentlich auch fernerhin im Laufe der Session getrennt marschieren, aber ver¬
eint mit den Nationalliberalen schlagen werden. Da den Konservativen me e ve
Rücksicht obliegt, so würde es trotz allem sehr weise sein, wenn die drei Harnen
vor Schluß des Reichstags ein gemeinsames Zentralwahlkomitee einsetzten va.
in voller Loyalität und Billigkeit für die Wahlkreise, in denen nur Kandi¬
daturen der drei Parteien gegeneinander oder nebeneinander gegen vie ^nre in
Betracht kommen, die Entscheids träfe. Kompromisse werden da unvermeid-
lich sein, und nicht immer werden sich störrische Wählermassen, nmuentlich die


Grenzboten I 1903


Die nationalliberale Partei

l uf den 1. Februar hat die nationalliberale Partei eine Sitzung
ihres Zentralvorstandes nach Berlin einberufen; es soll u. a.
auch über den nächsten Delegiertentag, für den Hannover in Aus¬
sicht genommen ist, Beschluß gefaßt werden. Wegen des Aus-
M^llgaugs der Zolltarifdebatten im Reichstag und der begonnenen
Vorbereitungen für die Neuwahlen sind beide Berscimmluugcu nicht ohne
Bedeutung und Tragweite. Das Reich sowohl wie der Reichstag, beide be¬
dürfen dringend einer Erstarkung der nationalliberalcn Partei. Die Partei-
Verhältnisse, wie sie im Reichstage liegen, sind ungesund, und eine Reichs¬
politik, die gezwungen ist, sich auf sie zu stützen und ihnen ihre Erwägungen
und Maßnahmen unterzuordnen, kann beim besten Willen nicht Wege gehn,
die von, Standpunkt der Gründung und der Entwicklung des Reichs als
normal gelten können. Das Wort: „Der deutsche Kaiser und der deutsche
Reichstag siud an einem Tage geboren" hat auch eine eruste Nebenbedeutung:
mit dem Sinken des Ansehens des Reichstags ist unabweisbar ein Sinken des
Reichsgedankens verbunden. Die Kraft einer starken Monarchie kann dem
vielleicht noch lange ^eit Einhalt tun, sie wird es aber zuletzt uur durch
Mittel können, die den Wünschen einer uationalliberalen Parder acht ent¬
sprechen. Es kommt aber noch mehr in Betracht. Die Einheit und tue Kraft
unsrer auswärtigen Aktionen leiden darunter, wenn das Ausland weiß, daß
hinter der Regierung nicht ein von dem ganzen Stolze des nationalen Be¬
wußtseins erfüllter und getragner Reichstag steht. Man denke an die Jnter¬
pellation Bennigsen vom 1. April 1867. Die natioualliberale Partei wird
"tho gut tun. alle Reichstagswahlkreise einer sorgfältigen Prüfung auf die zu
ermöglichenden Ergebnisse hin zu unterziehn und überall da, wo ein Erfolgnicht gänzlich aussichtslos ist. mit voller, zäher Energie in den Wahlkampf ein-
zutreten. Selbstverständlich kommt für die Wahlkreise, in denen Kandidaturen
der beiden konservativen Parteien mit den Nationalliberalen in Wettbewerb
stehn, die Rücksicht auf die Verbündeten im Zolltarifkampf in Betracht, tue
hoffentlich auch fernerhin im Laufe der Session getrennt marschieren, aber ver¬
eint mit den Nationalliberalen schlagen werden. Da den Konservativen me e ve
Rücksicht obliegt, so würde es trotz allem sehr weise sein, wenn die drei Harnen
vor Schluß des Reichstags ein gemeinsames Zentralwahlkomitee einsetzten va.
in voller Loyalität und Billigkeit für die Wahlkreise, in denen nur Kandi¬
daturen der drei Parteien gegeneinander oder nebeneinander gegen vie ^nre in
Betracht kommen, die Entscheids träfe. Kompromisse werden da unvermeid-
lich sein, und nicht immer werden sich störrische Wählermassen, nmuentlich die


Grenzboten I 1903
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[0261] [Abbildung] Die nationalliberale Partei l uf den 1. Februar hat die nationalliberale Partei eine Sitzung ihres Zentralvorstandes nach Berlin einberufen; es soll u. a. auch über den nächsten Delegiertentag, für den Hannover in Aus¬ sicht genommen ist, Beschluß gefaßt werden. Wegen des Aus- M^llgaugs der Zolltarifdebatten im Reichstag und der begonnenen Vorbereitungen für die Neuwahlen sind beide Berscimmluugcu nicht ohne Bedeutung und Tragweite. Das Reich sowohl wie der Reichstag, beide be¬ dürfen dringend einer Erstarkung der nationalliberalcn Partei. Die Partei- Verhältnisse, wie sie im Reichstage liegen, sind ungesund, und eine Reichs¬ politik, die gezwungen ist, sich auf sie zu stützen und ihnen ihre Erwägungen und Maßnahmen unterzuordnen, kann beim besten Willen nicht Wege gehn, die von, Standpunkt der Gründung und der Entwicklung des Reichs als normal gelten können. Das Wort: „Der deutsche Kaiser und der deutsche Reichstag siud an einem Tage geboren" hat auch eine eruste Nebenbedeutung: mit dem Sinken des Ansehens des Reichstags ist unabweisbar ein Sinken des Reichsgedankens verbunden. Die Kraft einer starken Monarchie kann dem vielleicht noch lange ^eit Einhalt tun, sie wird es aber zuletzt uur durch Mittel können, die den Wünschen einer uationalliberalen Parder acht ent¬ sprechen. Es kommt aber noch mehr in Betracht. Die Einheit und tue Kraft unsrer auswärtigen Aktionen leiden darunter, wenn das Ausland weiß, daß hinter der Regierung nicht ein von dem ganzen Stolze des nationalen Be¬ wußtseins erfüllter und getragner Reichstag steht. Man denke an die Jnter¬ pellation Bennigsen vom 1. April 1867. Die natioualliberale Partei wird "tho gut tun. alle Reichstagswahlkreise einer sorgfältigen Prüfung auf die zu ermöglichenden Ergebnisse hin zu unterziehn und überall da, wo ein Erfolgnicht gänzlich aussichtslos ist. mit voller, zäher Energie in den Wahlkampf ein- zutreten. Selbstverständlich kommt für die Wahlkreise, in denen Kandidaturen der beiden konservativen Parteien mit den Nationalliberalen in Wettbewerb stehn, die Rücksicht auf die Verbündeten im Zolltarifkampf in Betracht, tue hoffentlich auch fernerhin im Laufe der Session getrennt marschieren, aber ver¬ eint mit den Nationalliberalen schlagen werden. Da den Konservativen me e ve Rücksicht obliegt, so würde es trotz allem sehr weise sein, wenn die drei Harnen vor Schluß des Reichstags ein gemeinsames Zentralwahlkomitee einsetzten va. in voller Loyalität und Billigkeit für die Wahlkreise, in denen nur Kandi¬ daturen der drei Parteien gegeneinander oder nebeneinander gegen vie ^nre in Betracht kommen, die Entscheids träfe. Kompromisse werden da unvermeid- lich sein, und nicht immer werden sich störrische Wählermassen, nmuentlich die Grenzboten I 1903

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/261>, abgerufen am 01.11.2024.