der zerfleischte Jtys, ein Hippolytus auf Eu- ripides Bühne, Medea in allen Verzerrungen ihrer Wuth, Philoktet in den ärgsten Zuckun- gen seiner Krankheit, gar ein Sterbender im Todeskampf, ein Verwesender im Kampf mit den Würmern -- grausende Objecte für die langsame fühlende Hand, die statt Jdeen Ab- scheu und statt Nachahmung dessen, was ist, schreckliche Zerrüttung dessen, was nicht mehr ist, wahrnimmt. Grausame Kunst! gebildete Mißbildung! Wenn der heil. Bartholomäus da halbgeschunden, mit hangender Haut und zer- fleischtem Körper vor mich tritt, und mir zuruft: non me Praxiteles, sed Marcus finxit Agrati! und ich soll seine schrecklich natürliche Unnatur durchtasten, durchfühlen; -- grausamer Ge- genstand, schweig' und weiche! Kein Praxiteles bildete dich, denn er würde dich nie haben bilden wollen. Dich, wie du bist, aus dem Steine hervorzufühlen, hervorzuschinden, welcher Grie- che würde das vermocht haben? --
Nur sieht jedweder, daß, was von der Bildhauerei gilt, nicht sofort von Mahlerei und von allen schönen Künsten, selbst wenns nur Gem- men und Münzen wären, statt habe. Einige neue eckle Herren haben über diese so unterschie- dene Dinge aus einem Kopfe das Loos geschüttet, und zu Häßlichkeiten gezählt, was weder Gott
noch
der zerfleiſchte Jtys, ein Hippolytus auf Eu- ripides Buͤhne, Medea in allen Verzerrungen ihrer Wuth, Philoktet in den aͤrgſten Zuckun- gen ſeiner Krankheit, gar ein Sterbender im Todeskampf, ein Verweſender im Kampf mit den Wuͤrmern — grauſende Objecte fuͤr die langſame fuͤhlende Hand, die ſtatt Jdeen Ab- ſcheu und ſtatt Nachahmung deſſen, was iſt, ſchreckliche Zerruͤttung deſſen, was nicht mehr iſt, wahrnimmt. Grauſame Kunſt! gebildete Mißbildung! Wenn der heil. Bartholomaͤus da halbgeſchunden, mit hangender Haut und zer- fleiſchtem Koͤrper vor mich tritt, und mir zuruft: non me Praxiteles, ſed Marcus finxit Agrati! und ich ſoll ſeine ſchrecklich natuͤrliche Unnatur durchtaſten, durchfuͤhlen; — grauſamer Ge- genſtand, ſchweig’ und weiche! Kein Praxiteles bildete dich, denn er wuͤrde dich nie haben bilden wollen. Dich, wie du biſt, aus dem Steine hervorzufuͤhlen, hervorzuſchinden, welcher Grie- che wuͤrde das vermocht haben? —
Nur ſieht jedweder, daß, was von der Bildhauerei gilt, nicht ſofort von Mahlerei und von allen ſchoͤnen Kuͤnſten, ſelbſt wenns nur Gem- men und Muͤnzen waͤren, ſtatt habe. Einige neue eckle Herren haben uͤber dieſe ſo unterſchie- dene Dinge aus einem Kopfe das Loos geſchuͤttet, und zu Haͤßlichkeiten gezaͤhlt, was weder Gott
noch
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[50/0053]
der zerfleiſchte Jtys, ein Hippolytus auf Eu-
ripides Buͤhne, Medea in allen Verzerrungen
ihrer Wuth, Philoktet in den aͤrgſten Zuckun-
gen ſeiner Krankheit, gar ein Sterbender im
Todeskampf, ein Verweſender im Kampf mit
den Wuͤrmern — grauſende Objecte fuͤr die
langſame fuͤhlende Hand, die ſtatt Jdeen Ab-
ſcheu und ſtatt Nachahmung deſſen, was iſt,
ſchreckliche Zerruͤttung deſſen, was nicht mehr
iſt, wahrnimmt. Grauſame Kunſt! gebildete
Mißbildung! Wenn der heil. Bartholomaͤus
da halbgeſchunden, mit hangender Haut und zer-
fleiſchtem Koͤrper vor mich tritt, und mir zuruft:
non me Praxiteles, ſed Marcus finxit Agrati!
und ich ſoll ſeine ſchrecklich natuͤrliche Unnatur
durchtaſten, durchfuͤhlen; — grauſamer Ge-
genſtand, ſchweig’ und weiche! Kein Praxiteles
bildete dich, denn er wuͤrde dich nie haben bilden
wollen. Dich, wie du biſt, aus dem Steine
hervorzufuͤhlen, hervorzuſchinden, welcher Grie-
che wuͤrde das vermocht haben? —
Nur ſieht jedweder, daß, was von der
Bildhauerei gilt, nicht ſofort von Mahlerei und
von allen ſchoͤnen Kuͤnſten, ſelbſt wenns nur Gem-
men und Muͤnzen waͤren, ſtatt habe. Einige
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[Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/53>, abgerufen am 17.06.2024.
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