A. Stellung des Indiv. Die Freiheit eine Schranke der Willkühr. §. 33.
sollten, wurden in Wirklichkeit zu Werkzeugen der Unfreiheit, zu Ketten und Banden, unter denen die subjektive Freiheit zu erliegen drohte.
Diese Möglichkeit einer Selbstvernichtung scheint, wie ge- sagt, im Wesen der Freiheit begründet, und damit der Beweis erbracht, daß die Freiheit in ihrer vollen Consequenz praktisch unausführbar, einer Beschränkung von Seiten der legislativen Gewalt bedürftig ist. Das ist aber nur Schein; er verschwin- det, sowie man nur den Freiheitsbegriff richtig erfaßt. Der Anspruch des Individuums auf die rechtliche Freiheit stützte sich, wie wir §. 30 nachzuweisen versuchten, auf eine ethische Grundlage, -- den schöpferischen Beruf der Persönlichkeit. Dar- aus ergibt sich zunächst für das Individuum der Gesichtspunkt, daß sein Recht auf Freiheit zugleich eine Pflicht ist, für den Staat aber, daß er nur diese wahre, ethisch berechtigte Freiheit des Subjekts anzuerkennen und zu verwirklichen hat. Seine Aufgabe der Freiheit des Subjekts gegenüber ist also nicht eine bloß negative, ein Gewährenlassen, ein Nichteingreifen in ein fremdes Gebiet, seine Stellung nicht die des indifferenten Zu- schauers; sondern seine Aufgabe ist wesentlich positiver Art: Verwirklichung der rechtlichen Freiheit, Sicherstellung derselben gegen die Gefahr einer Unterdrückung oder Entziehung, drohe dieselbe von außen oder von Seiten des Subjekts selbst (Selbst- vernichtung der Freiheit). Darin eine dem Begriff der Freiheit widerstrebende Bevormundung von Seiten des Staats zu erbli- cken, ist nur möglich, wenn man weder der Freiheit, noch dem Staat eine sittliche Bestimmung zuschreibt.
Das römische Recht gewährt uns für die vorliegende Frage ein höchst instructives Beispiel, das uns aller ferneren allgemei- nen Betrachtungen überhebt; man möge daran zugleich erkennen, mit welcher Gedankenlosigkeit und Oberflächlichkeit man mitunter über dasselbe abgeurtheilt hat. Blinde Lobredner des germani- schen Rechts, die den Balken im eigenen Auge übersahen und den Splitter im Auge des Nächsten erkannten, haben gerade die
A. Stellung des Indiv. Die Freiheit eine Schranke der Willkühr. §. 33.
ſollten, wurden in Wirklichkeit zu Werkzeugen der Unfreiheit, zu Ketten und Banden, unter denen die ſubjektive Freiheit zu erliegen drohte.
Dieſe Möglichkeit einer Selbſtvernichtung ſcheint, wie ge- ſagt, im Weſen der Freiheit begründet, und damit der Beweis erbracht, daß die Freiheit in ihrer vollen Conſequenz praktiſch unausführbar, einer Beſchränkung von Seiten der legislativen Gewalt bedürftig iſt. Das iſt aber nur Schein; er verſchwin- det, ſowie man nur den Freiheitsbegriff richtig erfaßt. Der Anſpruch des Individuums auf die rechtliche Freiheit ſtützte ſich, wie wir §. 30 nachzuweiſen verſuchten, auf eine ethiſche Grundlage, — den ſchöpferiſchen Beruf der Perſönlichkeit. Dar- aus ergibt ſich zunächſt für das Individuum der Geſichtspunkt, daß ſein Recht auf Freiheit zugleich eine Pflicht iſt, für den Staat aber, daß er nur dieſe wahre, ethiſch berechtigte Freiheit des Subjekts anzuerkennen und zu verwirklichen hat. Seine Aufgabe der Freiheit des Subjekts gegenüber iſt alſo nicht eine bloß negative, ein Gewährenlaſſen, ein Nichteingreifen in ein fremdes Gebiet, ſeine Stellung nicht die des indifferenten Zu- ſchauers; ſondern ſeine Aufgabe iſt weſentlich poſitiver Art: Verwirklichung der rechtlichen Freiheit, Sicherſtellung derſelben gegen die Gefahr einer Unterdrückung oder Entziehung, drohe dieſelbe von außen oder von Seiten des Subjekts ſelbſt (Selbſt- vernichtung der Freiheit). Darin eine dem Begriff der Freiheit widerſtrebende Bevormundung von Seiten des Staats zu erbli- cken, iſt nur möglich, wenn man weder der Freiheit, noch dem Staat eine ſittliche Beſtimmung zuſchreibt.
Das römiſche Recht gewährt uns für die vorliegende Frage ein höchſt inſtructives Beiſpiel, das uns aller ferneren allgemei- nen Betrachtungen überhebt; man möge daran zugleich erkennen, mit welcher Gedankenloſigkeit und Oberflächlichkeit man mitunter über daſſelbe abgeurtheilt hat. Blinde Lobredner des germani- ſchen Rechts, die den Balken im eigenen Auge überſahen und den Splitter im Auge des Nächſten erkannten, haben gerade die
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A. Stellung des Indiv. Die Freiheit eine Schranke der Willkühr. §. 33.
ſollten, wurden in Wirklichkeit zu Werkzeugen der Unfreiheit,
zu Ketten und Banden, unter denen die ſubjektive Freiheit zu
erliegen drohte.
Dieſe Möglichkeit einer Selbſtvernichtung ſcheint, wie ge-
ſagt, im Weſen der Freiheit begründet, und damit der Beweis
erbracht, daß die Freiheit in ihrer vollen Conſequenz praktiſch
unausführbar, einer Beſchränkung von Seiten der legislativen
Gewalt bedürftig iſt. Das iſt aber nur Schein; er verſchwin-
det, ſowie man nur den Freiheitsbegriff richtig erfaßt. Der
Anſpruch des Individuums auf die rechtliche Freiheit ſtützte
ſich, wie wir §. 30 nachzuweiſen verſuchten, auf eine ethiſche
Grundlage, — den ſchöpferiſchen Beruf der Perſönlichkeit. Dar-
aus ergibt ſich zunächſt für das Individuum der Geſichtspunkt,
daß ſein Recht auf Freiheit zugleich eine Pflicht iſt, für den
Staat aber, daß er nur dieſe wahre, ethiſch berechtigte Freiheit
des Subjekts anzuerkennen und zu verwirklichen hat. Seine
Aufgabe der Freiheit des Subjekts gegenüber iſt alſo nicht eine
bloß negative, ein Gewährenlaſſen, ein Nichteingreifen in ein
fremdes Gebiet, ſeine Stellung nicht die des indifferenten Zu-
ſchauers; ſondern ſeine Aufgabe iſt weſentlich poſitiver Art:
Verwirklichung der rechtlichen Freiheit, Sicherſtellung derſelben
gegen die Gefahr einer Unterdrückung oder Entziehung, drohe
dieſelbe von außen oder von Seiten des Subjekts ſelbſt (Selbſt-
vernichtung der Freiheit). Darin eine dem Begriff der Freiheit
widerſtrebende Bevormundung von Seiten des Staats zu erbli-
cken, iſt nur möglich, wenn man weder der Freiheit, noch dem
Staat eine ſittliche Beſtimmung zuſchreibt.
Das römiſche Recht gewährt uns für die vorliegende Frage
ein höchſt inſtructives Beiſpiel, das uns aller ferneren allgemei-
nen Betrachtungen überhebt; man möge daran zugleich erkennen,
mit welcher Gedankenloſigkeit und Oberflächlichkeit man mitunter
über daſſelbe abgeurtheilt hat. Blinde Lobredner des germani-
ſchen Rechts, die den Balken im eigenen Auge überſahen und
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/237>, abgerufen am 17.06.2024.
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