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Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856.

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Alles, was dazumal die Herzen in dem Hause bis
zum Zerspringen schwellen machte, was in den ver¬
düsterten Seelen umging und zum Theile heraustrat in
der Selbstvergessenheit der Angst oder zur That wurde,
zur Verzweiflungsthat: alles das mag durch das Ge¬
dächtniß des Mannes geh'n, mit dem wir uns bis jetzt
beschäftigt. Es ist Sonntag und die Glocken von Sankt
Georg, die den Beginn des vormittägigen Gottesdienstes
verkündigen, rufen auch in das Gärtchen herein, wo
Herr Nettenmair nach hergebrachter Weise zu dieser
Stunde auf einer Bank in seiner Laube sitzt. Seine
Augen ruhen auf dem schiefergedeckten Thurmdach von
Sankt Georg, das über die Planken des Nachbargartens
sich erhebt und auch nach ihm zu schauen scheint. Heut
sind's ein und dreißig Jahre, seit er nach längerer Ab¬
wesenheit auf der Wanderschaft in die Vaterstadt heim¬
kehrte. Eben so riefen die Glocken, als er durch eine
Schneise hindurch an der Straße den alten Thurm zum
erstenmale wiedersah. Damals knüpfte sich seine nächste
Zukunft an das alte Schieferdach; jetzt liest er seine
Vergangenheit davon ab. Denn -- aber ich vergesse,
der Leser weiß nicht, wovon ich spreche. Es ist ja
eben das, was ich ihm erzählen will.


So blättern wir denn die einunddreißig Jahre zurück
und finden einen jungen Mann statt des alten, den

Alles, was dazumal die Herzen in dem Hauſe bis
zum Zerſpringen ſchwellen machte, was in den ver¬
düſterten Seelen umging und zum Theile heraustrat in
der Selbſtvergeſſenheit der Angſt oder zur That wurde,
zur Verzweiflungsthat: alles das mag durch das Ge¬
dächtniß des Mannes geh'n, mit dem wir uns bis jetzt
beſchäftigt. Es iſt Sonntag und die Glocken von Sankt
Georg, die den Beginn des vormittägigen Gottesdienſtes
verkündigen, rufen auch in das Gärtchen herein, wo
Herr Nettenmair nach hergebrachter Weiſe zu dieſer
Stunde auf einer Bank in ſeiner Laube ſitzt. Seine
Augen ruhen auf dem ſchiefergedeckten Thurmdach von
Sankt Georg, das über die Planken des Nachbargartens
ſich erhebt und auch nach ihm zu ſchauen ſcheint. Heut
ſind's ein und dreißig Jahre, ſeit er nach längerer Ab¬
weſenheit auf der Wanderſchaft in die Vaterſtadt heim¬
kehrte. Eben ſo riefen die Glocken, als er durch eine
Schneiſe hindurch an der Straße den alten Thurm zum
erſtenmale wiederſah. Damals knüpfte ſich ſeine nächſte
Zukunft an das alte Schieferdach; jetzt lieſt er ſeine
Vergangenheit davon ab. Denn — aber ich vergeſſe,
der Leſer weiß nicht, wovon ich ſpreche. Es iſt ja
eben das, was ich ihm erzählen will.


So blättern wir denn die einunddreißig Jahre zurück
und finden einen jungen Mann ſtatt des alten, den

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[9/0018] Alles, was dazumal die Herzen in dem Hauſe bis zum Zerſpringen ſchwellen machte, was in den ver¬ düſterten Seelen umging und zum Theile heraustrat in der Selbſtvergeſſenheit der Angſt oder zur That wurde, zur Verzweiflungsthat: alles das mag durch das Ge¬ dächtniß des Mannes geh'n, mit dem wir uns bis jetzt beſchäftigt. Es iſt Sonntag und die Glocken von Sankt Georg, die den Beginn des vormittägigen Gottesdienſtes verkündigen, rufen auch in das Gärtchen herein, wo Herr Nettenmair nach hergebrachter Weiſe zu dieſer Stunde auf einer Bank in ſeiner Laube ſitzt. Seine Augen ruhen auf dem ſchiefergedeckten Thurmdach von Sankt Georg, das über die Planken des Nachbargartens ſich erhebt und auch nach ihm zu ſchauen ſcheint. Heut ſind's ein und dreißig Jahre, ſeit er nach längerer Ab¬ weſenheit auf der Wanderſchaft in die Vaterſtadt heim¬ kehrte. Eben ſo riefen die Glocken, als er durch eine Schneiſe hindurch an der Straße den alten Thurm zum erſtenmale wiederſah. Damals knüpfte ſich ſeine nächſte Zukunft an das alte Schieferdach; jetzt lieſt er ſeine Vergangenheit davon ab. Denn — aber ich vergeſſe, der Leſer weiß nicht, wovon ich ſpreche. Es iſt ja eben das, was ich ihm erzählen will. So blättern wir denn die einunddreißig Jahre zurück und finden einen jungen Mann ſtatt des alten, den

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Zitationshilfe: Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/18>, abgerufen am 30.04.2024.