Waffen, die jemals zu den verschiedensten Zeiten und von den verschiedensten Seiten her gegen den Katho¬ licismus sich gerichtet, sondern, sofern ihre Lehren positiv sind, enthält sie auch die Keime künftiger Ent¬ wickelungen. Die nun auf die Zukunft sehn, finden im gegenwärtigen Protestantismus noch mannigfache Gebrechen und somit herrschen in dieser Partei sehr entgegengesetzte Meinungen. Endlich hat sich das Hei¬ denthum wie in den Überlieferungen der katholischen Kirche, so im Libertinismus einiger Protestanten eben¬ falls eine Stimme erhalten. Darf man sich also über die ungeheure Mannigfaltigkeit von Meinungen und Urtheilen, die über Religion obwalten, noch verwun¬ dern? Die Stimmen vergangner Jahrtausende mischen sich immerfort mit den heutigen, und will man sie alle verstehen, muß man sich in allen Zeiten umsehen. Kein Zeitalter war so roh, daß es nicht in dem un¬ sern einen Repräsentanten aufzuweisen hätte, und man darf wohl auch sagen, keines wird so edel seyn, dem nicht wenigstens eine erhabne Ahnung des heutigen entspräche. Den Fuß im Abgrund und Sumpf ragt dies Geschlecht mit dem Haupt in ferne Sonnenhöhen.
Die Meinungen könnten friedlich neben einander bestehen, aber sie kämpfen, weil jede allein gelten will. Es gibt kein Volk, das so heterogene Elemente in sich vereinigte, dessen mannigfach modificirte Na¬ turanlagen und Charaktere so sehr aller Normalität widerstrebten, als das deutsche, und doch suchen wir allem eine Norm aufzuzwingen, überall denken wir
Waffen, die jemals zu den verſchiedenſten Zeiten und von den verſchiedenſten Seiten her gegen den Katho¬ licismus ſich gerichtet, ſondern, ſofern ihre Lehren poſitiv ſind, enthaͤlt ſie auch die Keime kuͤnftiger Ent¬ wickelungen. Die nun auf die Zukunft ſehn, finden im gegenwaͤrtigen Proteſtantismus noch mannigfache Gebrechen und ſomit herrſchen in dieſer Partei ſehr entgegengeſetzte Meinungen. Endlich hat ſich das Hei¬ denthum wie in den Überlieferungen der katholiſchen Kirche, ſo im Libertinismus einiger Proteſtanten eben¬ falls eine Stimme erhalten. Darf man ſich alſo uͤber die ungeheure Mannigfaltigkeit von Meinungen und Urtheilen, die uͤber Religion obwalten, noch verwun¬ dern? Die Stimmen vergangner Jahrtauſende miſchen ſich immerfort mit den heutigen, und will man ſie alle verſtehen, muß man ſich in allen Zeiten umſehen. Kein Zeitalter war ſo roh, daß es nicht in dem un¬ ſern einen Repraͤſentanten aufzuweiſen haͤtte, und man darf wohl auch ſagen, keines wird ſo edel ſeyn, dem nicht wenigſtens eine erhabne Ahnung des heutigen entſpraͤche. Den Fuß im Abgrund und Sumpf ragt dies Geſchlecht mit dem Haupt in ferne Sonnenhoͤhen.
Die Meinungen koͤnnten friedlich neben einander beſtehen, aber ſie kaͤmpfen, weil jede allein gelten will. Es gibt kein Volk, das ſo heterogene Elemente in ſich vereinigte, deſſen mannigfach modificirte Na¬ turanlagen und Charaktere ſo ſehr aller Normalitaͤt widerſtrebten, als das deutſche, und doch ſuchen wir allem eine Norm aufzuzwingen, uͤberall denken wir
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Waffen, die jemals zu den verſchiedenſten Zeiten und
von den verſchiedenſten Seiten her gegen den Katho¬
licismus ſich gerichtet, ſondern, ſofern ihre Lehren
poſitiv ſind, enthaͤlt ſie auch die Keime kuͤnftiger Ent¬
wickelungen. Die nun auf die Zukunft ſehn, finden
im gegenwaͤrtigen Proteſtantismus noch mannigfache
Gebrechen und ſomit herrſchen in dieſer Partei ſehr
entgegengeſetzte Meinungen. Endlich hat ſich das Hei¬
denthum wie in den Überlieferungen der katholiſchen
Kirche, ſo im Libertinismus einiger Proteſtanten eben¬
falls eine Stimme erhalten. Darf man ſich alſo uͤber
die ungeheure Mannigfaltigkeit von Meinungen und
Urtheilen, die uͤber Religion obwalten, noch verwun¬
dern? Die Stimmen vergangner Jahrtauſende miſchen
ſich immerfort mit den heutigen, und will man ſie
alle verſtehen, muß man ſich in allen Zeiten umſehen.
Kein Zeitalter war ſo roh, daß es nicht in dem un¬
ſern einen Repraͤſentanten aufzuweiſen haͤtte, und man
darf wohl auch ſagen, keines wird ſo edel ſeyn, dem
nicht wenigſtens eine erhabne Ahnung des heutigen
entſpraͤche. Den Fuß im Abgrund und Sumpf ragt
dies Geſchlecht mit dem Haupt in ferne Sonnenhoͤhen.
Die Meinungen koͤnnten friedlich neben einander
beſtehen, aber ſie kaͤmpfen, weil jede allein gelten
will. Es gibt kein Volk, das ſo heterogene Elemente
in ſich vereinigte, deſſen mannigfach modificirte Na¬
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widerſtrebten, als das deutſche, und doch ſuchen wir
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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/104>, abgerufen am 16.06.2024.
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