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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Eilftes Buch, zweytes Capitel.
macht, wenn er mehr Eitelkeit und weniger kaltes
Blut gehabt hätte; aber so wie er war, überließ er
diese Art von Speculationen seinem Freunde Plato,
und schränkte seine Nachforschungen über die blos intel-
lectualischen Gegenstände lediglich auf diese einfältigen
Wahrheiten ein, welche das allgemeine Gefühl errei-
chen kann, welche die Vernunft bekräftiget, und deren
wolthätiger Einfluß auf den Wolstand unsers Privat-
Systems so wol als auf das allgemeine Beste allein
schon genugsam ist, ihren Werth zu beweisen. Es
läßt sich also ganz sicher von dem Leben eines solchen
Mannes auf die Güte seiner Denkens-Art schliessen.
Archytas verband alle häuslichen und bürgerlichen Tu-
genden, mit dieser schönsten und göttlichsten unter al-
len, welche sich auf keine andre Beziehung gründet,
als das allgemeine Band, womit die Natur alle Wesen
verknüpft. Er hatte das seltene Glük, daß die unta-
deliche Unschuld seines öffentlichen und Privat-Lebens,
die Bescheidenheit, wodurch er den Glanz so vieler
Verdienste zu mildern wußte, und die Mässigung, wo-
mit er sich seines Ansehens bediente, endlich so gar den
Neid entwafnete, und ihm die Herzen seiner Mitbür-
ger so gänzlich gewanne, daß er (ungeachtet er sich
seines hohen Alters wegen von den Geschäften zurükge-
zogen hatte) bis an sein Ende als die Seele des Staats
und der Vater des Vaterlands angesehen wurde, und
in dieser Qualität eine Autorität beybehielt, welcher
nur die äusserlichen Zeichen der königlichen Würde fehl-
ten. Niemals hat ein Despot unumschränkter über

die
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Eilftes Buch, zweytes Capitel.
macht, wenn er mehr Eitelkeit und weniger kaltes
Blut gehabt haͤtte; aber ſo wie er war, uͤberließ er
dieſe Art von Speculationen ſeinem Freunde Plato,
und ſchraͤnkte ſeine Nachforſchungen uͤber die blos intel-
lectualiſchen Gegenſtaͤnde lediglich auf dieſe einfaͤltigen
Wahrheiten ein, welche das allgemeine Gefuͤhl errei-
chen kann, welche die Vernunft bekraͤftiget, und deren
wolthaͤtiger Einfluß auf den Wolſtand unſers Privat-
Syſtems ſo wol als auf das allgemeine Beſte allein
ſchon genugſam iſt, ihren Werth zu beweiſen. Es
laͤßt ſich alſo ganz ſicher von dem Leben eines ſolchen
Mannes auf die Guͤte ſeiner Denkens-Art ſchlieſſen.
Archytas verband alle haͤuslichen und buͤrgerlichen Tu-
genden, mit dieſer ſchoͤnſten und goͤttlichſten unter al-
len, welche ſich auf keine andre Beziehung gruͤndet,
als das allgemeine Band, womit die Natur alle Weſen
verknuͤpft. Er hatte das ſeltene Gluͤk, daß die unta-
deliche Unſchuld ſeines oͤffentlichen und Privat-Lebens,
die Beſcheidenheit, wodurch er den Glanz ſo vieler
Verdienſte zu mildern wußte, und die Maͤſſigung, wo-
mit er ſich ſeines Anſehens bediente, endlich ſo gar den
Neid entwafnete, und ihm die Herzen ſeiner Mitbuͤr-
ger ſo gaͤnzlich gewanne, daß er (ungeachtet er ſich
ſeines hohen Alters wegen von den Geſchaͤften zuruͤkge-
zogen hatte) bis an ſein Ende als die Seele des Staats
und der Vater des Vaterlands angeſehen wurde, und
in dieſer Qualitaͤt eine Autoritaͤt beybehielt, welcher
nur die aͤuſſerlichen Zeichen der koͤniglichen Wuͤrde fehl-
ten. Niemals hat ein Deſpot unumſchraͤnkter uͤber

die
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[311/0313] Eilftes Buch, zweytes Capitel. macht, wenn er mehr Eitelkeit und weniger kaltes Blut gehabt haͤtte; aber ſo wie er war, uͤberließ er dieſe Art von Speculationen ſeinem Freunde Plato, und ſchraͤnkte ſeine Nachforſchungen uͤber die blos intel- lectualiſchen Gegenſtaͤnde lediglich auf dieſe einfaͤltigen Wahrheiten ein, welche das allgemeine Gefuͤhl errei- chen kann, welche die Vernunft bekraͤftiget, und deren wolthaͤtiger Einfluß auf den Wolſtand unſers Privat- Syſtems ſo wol als auf das allgemeine Beſte allein ſchon genugſam iſt, ihren Werth zu beweiſen. Es laͤßt ſich alſo ganz ſicher von dem Leben eines ſolchen Mannes auf die Guͤte ſeiner Denkens-Art ſchlieſſen. Archytas verband alle haͤuslichen und buͤrgerlichen Tu- genden, mit dieſer ſchoͤnſten und goͤttlichſten unter al- len, welche ſich auf keine andre Beziehung gruͤndet, als das allgemeine Band, womit die Natur alle Weſen verknuͤpft. Er hatte das ſeltene Gluͤk, daß die unta- deliche Unſchuld ſeines oͤffentlichen und Privat-Lebens, die Beſcheidenheit, wodurch er den Glanz ſo vieler Verdienſte zu mildern wußte, und die Maͤſſigung, wo- mit er ſich ſeines Anſehens bediente, endlich ſo gar den Neid entwafnete, und ihm die Herzen ſeiner Mitbuͤr- ger ſo gaͤnzlich gewanne, daß er (ungeachtet er ſich ſeines hohen Alters wegen von den Geſchaͤften zuruͤkge- zogen hatte) bis an ſein Ende als die Seele des Staats und der Vater des Vaterlands angeſehen wurde, und in dieſer Qualitaͤt eine Autoritaͤt beybehielt, welcher nur die aͤuſſerlichen Zeichen der koͤniglichen Wuͤrde fehl- ten. Niemals hat ein Deſpot unumſchraͤnkter uͤber die U 4

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 311. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/313>, abgerufen am 26.04.2024.