Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.pwo_272.001 Zu handwerksmäßiger Künstelei artet dies Streben nach immer pwo_272.012 Die aus der Renaissance hervorgehenden Bestrebungen eines Opitz, pwo_272.024 pwo_272.001 Zu handwerksmäßiger Künstelei artet dies Streben nach immer pwo_272.012 Die aus der Renaissance hervorgehenden Bestrebungen eines Opitz, pwo_272.024 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0286" n="272"/><lb n="pwo_272.001"/> musikalischen Gestaltung der Verskunst aufzufassen. Nichts <lb n="pwo_272.002"/> als musikalische Perioden treten uns in den beiden gleichartigen <lb n="pwo_272.003"/> <hi rendition="#g">Stollen</hi> und dem mit eigenartigem Tonsatz schließenden <hi rendition="#g">Abgesang</hi> <lb n="pwo_272.004"/> entgegen. Auch sonst weicht die ursprüngliche Einfachheit und Einförmigkeit <lb n="pwo_272.005"/> im 12. Jahrhundert zusehends gewollter Mannigfaltigkeit, <lb n="pwo_272.006"/> Abwechselung, individueller Sonderung. Anstelle der Gemeinsamkeit <lb n="pwo_272.007"/> des einen nationalen Verses wird jede neue metrische Form Eigentum <lb n="pwo_272.008"/> ihres Erfinders, und als Tönedieb geächtet, wer sonst sie zu übernehmen <lb n="pwo_272.009"/> wagt. Der Einfluß provenzalischer Kunstfertigkeit vermehrte <lb n="pwo_272.010"/> noch diesen erzwungenen Reichtum an Tönen.</p> <lb n="pwo_272.011"/> <p> Zu handwerksmäßiger Künstelei artet dies Streben nach immer <lb n="pwo_272.012"/> neuen, eigenartigen, unerhörten Strophenbildungen im <hi rendition="#g">Meistersang</hi> <lb n="pwo_272.013"/> aus. Was in üppigem Reichtum lebendiger Entwicklung eingesetzt, <lb n="pwo_272.014"/> erstarrt schließlich zu scholastischer Pedanterie. Auch die Gliederung <lb n="pwo_272.015"/> der Strophe schreitet fort: schon seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts <lb n="pwo_272.016"/> wird dem Abgesang gern ein dritter Stollen angehängt. <lb n="pwo_272.017"/> Aber das accentuierende Prinzip alleiniger Geltung der lautlich betonten <lb n="pwo_272.018"/> Silben bleibt erhalten. Die Verachtung, welcher die „Knüttelverse“ <lb n="pwo_272.019"/> des Hans Sachs im 17. Jahrhundert anheimfielen, geht auf <lb n="pwo_272.020"/> die regelgläubige Gewaltsamkeit zurück, mit der man diese frei beweglichen <lb n="pwo_272.021"/> deutschen Maße in das Prokrustesbett der antiken Metra <lb n="pwo_272.022"/> zu zwängen suchte.</p> <lb n="pwo_272.023"/> <p> Die aus der Renaissance hervorgehenden Bestrebungen eines <hi rendition="#g">Opitz,</hi> <lb n="pwo_272.024"/> seiner Vorgänger und seiner Nachfolger lenkten das aus neuem sprachlichen <lb n="pwo_272.025"/> Umschwung erwachsene Bedürfnis nach metrischen Umbildungen <lb n="pwo_272.026"/> in die Bahnen der fremden Renaissancevölker. Schon seit dem letzten <lb n="pwo_272.027"/> Drittel des 16. Jahrhunderts war der französische Alexandriner mit <lb n="pwo_272.028"/> seiner festen Silbenzahl eingeführt, zunächst ohne daß der deutschen <lb n="pwo_272.029"/> Betonungsfreiheit im einzelnen Gewalt angethan werden sollte. Erst <lb n="pwo_272.030"/> Opitz führt im Gegensatz zum deutschen Sprachgeist regelmäßigen <lb n="pwo_272.031"/> Wechsel von Hebung und Senkung, damit also den antiken monopodischen <lb n="pwo_272.032"/> Versbau durch, allerdings unter Erkenntnis und grundsätzlicher <lb n="pwo_272.033"/> Anerkennung gerade des Gegensatzes der accentuierenden deutschen Betonung <lb n="pwo_272.034"/> zur antiken Quantitierung. Mit der bald folgenden Zulassung <lb n="pwo_272.035"/> von Daktylen geschah keine prinzipielle Aenderung in Handhabung der <lb n="pwo_272.036"/> Verskunst.</p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [272/0286]
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musikalischen Gestaltung der Verskunst aufzufassen. Nichts pwo_272.002
als musikalische Perioden treten uns in den beiden gleichartigen pwo_272.003
Stollen und dem mit eigenartigem Tonsatz schließenden Abgesang pwo_272.004
entgegen. Auch sonst weicht die ursprüngliche Einfachheit und Einförmigkeit pwo_272.005
im 12. Jahrhundert zusehends gewollter Mannigfaltigkeit, pwo_272.006
Abwechselung, individueller Sonderung. Anstelle der Gemeinsamkeit pwo_272.007
des einen nationalen Verses wird jede neue metrische Form Eigentum pwo_272.008
ihres Erfinders, und als Tönedieb geächtet, wer sonst sie zu übernehmen pwo_272.009
wagt. Der Einfluß provenzalischer Kunstfertigkeit vermehrte pwo_272.010
noch diesen erzwungenen Reichtum an Tönen.
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Zu handwerksmäßiger Künstelei artet dies Streben nach immer pwo_272.012
neuen, eigenartigen, unerhörten Strophenbildungen im Meistersang pwo_272.013
aus. Was in üppigem Reichtum lebendiger Entwicklung eingesetzt, pwo_272.014
erstarrt schließlich zu scholastischer Pedanterie. Auch die Gliederung pwo_272.015
der Strophe schreitet fort: schon seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts pwo_272.016
wird dem Abgesang gern ein dritter Stollen angehängt. pwo_272.017
Aber das accentuierende Prinzip alleiniger Geltung der lautlich betonten pwo_272.018
Silben bleibt erhalten. Die Verachtung, welcher die „Knüttelverse“ pwo_272.019
des Hans Sachs im 17. Jahrhundert anheimfielen, geht auf pwo_272.020
die regelgläubige Gewaltsamkeit zurück, mit der man diese frei beweglichen pwo_272.021
deutschen Maße in das Prokrustesbett der antiken Metra pwo_272.022
zu zwängen suchte.
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Die aus der Renaissance hervorgehenden Bestrebungen eines Opitz, pwo_272.024
seiner Vorgänger und seiner Nachfolger lenkten das aus neuem sprachlichen pwo_272.025
Umschwung erwachsene Bedürfnis nach metrischen Umbildungen pwo_272.026
in die Bahnen der fremden Renaissancevölker. Schon seit dem letzten pwo_272.027
Drittel des 16. Jahrhunderts war der französische Alexandriner mit pwo_272.028
seiner festen Silbenzahl eingeführt, zunächst ohne daß der deutschen pwo_272.029
Betonungsfreiheit im einzelnen Gewalt angethan werden sollte. Erst pwo_272.030
Opitz führt im Gegensatz zum deutschen Sprachgeist regelmäßigen pwo_272.031
Wechsel von Hebung und Senkung, damit also den antiken monopodischen pwo_272.032
Versbau durch, allerdings unter Erkenntnis und grundsätzlicher pwo_272.033
Anerkennung gerade des Gegensatzes der accentuierenden deutschen Betonung pwo_272.034
zur antiken Quantitierung. Mit der bald folgenden Zulassung pwo_272.035
von Daktylen geschah keine prinzipielle Aenderung in Handhabung der pwo_272.036
Verskunst.
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