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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Die griechische Wissenschaft tritt in das Stadium d. Einzelwissenschaften.

Inzwischen hatte seit dem Zeitalter der Sophisten der Skepti-
cismus fortbestanden. Unmittelbar nach Aristoteles tritt Pyrrho
auf, der Begründer der skeptischen Schule. Die Debatten dieser
Schule, insbesondere aber der neueren, skeptisch gerichteten Akademie
erfüllen das 3. und 2. Jahrhundert vor Christus und erhalten
ihren Abschluß in der Zusammenfassung der Beweisführungen gegen
alle Wissenschaften durch Sextus Empiricus. Sie zeigen, verglichen
mit dem Relativismus des Protagoras, einen Fortschritt des skep-
tischen Gedankens, indem sie auf Grund der nun geschaffenen Logik
und Metaphysik von den Unterschieden der Wahrnehmung und des
Denkens, des Phänomens und des dem Phänomen objektiv zu Grunde
Liegenden, des Syllogismus und der Induktion etc. für die Durch-
führung des skeptischen Grundgedankens Gebrauch machen. Hier-
durch trat zwar noch deutlicher die Schranke heraus, welche durch
den griechischen Geist dem Skepticismus gezogen war; innerhalb
der Voraussetzungen der alten Völker erwies sich nun aber dieser
Skepticismus als ganz unwiderleglich. Er blieb Sieger auf dem
weiten Kampfplatz der griechischen Metaphysik.

Der Skepticismus.

Welche sind die Grenzen in der Beweisführung der
skeptischen Schulen des Alterthums? Liest man, was übrig ge-
blieben ist, so wird es nur verständlich, wenn wir von unserem
höheren Standpunkt aus den Skeptikern zu Hilfe kommen, wenn
wir gleichsam heraufheben, was nach ihrem Standort unter ihrem
Horizont lag. So zeigt sich, wie dieselben solchergestalt nur bestritten
und aufgelöst haben, was ihr Gesichtskreis enthielt: die objek-
tive Welterkenntniß
des Alterthums, daß jedoch diese ihre
Kritik Anderes gar nicht erblickte -- und darum nicht traf. Das
Nicht-Wissen des Socrates war mit dem Affekt des Wahrheitsge-
fühls der Zukunft zugewandt. Pyrrho steht in sich gekehrt an der
Grenze des Griechenthums. Er stellt ruhig fest, daß alle Meta-
physik, alle positive Erkenntniß, welche der griechische Geist zu er-
blicken vermocht hatte, objektive Wahrheit nicht ist. Die Zeit stand
bevor, in welcher von einem höheren Standort aus Anderes gesehen

Die griechiſche Wiſſenſchaft tritt in das Stadium d. Einzelwiſſenſchaften.

Inzwiſchen hatte ſeit dem Zeitalter der Sophiſten der Skepti-
cismus fortbeſtanden. Unmittelbar nach Ariſtoteles tritt Pyrrho
auf, der Begründer der ſkeptiſchen Schule. Die Debatten dieſer
Schule, insbeſondere aber der neueren, ſkeptiſch gerichteten Akademie
erfüllen das 3. und 2. Jahrhundert vor Chriſtus und erhalten
ihren Abſchluß in der Zuſammenfaſſung der Beweisführungen gegen
alle Wiſſenſchaften durch Sextus Empiricus. Sie zeigen, verglichen
mit dem Relativismus des Protagoras, einen Fortſchritt des ſkep-
tiſchen Gedankens, indem ſie auf Grund der nun geſchaffenen Logik
und Metaphyſik von den Unterſchieden der Wahrnehmung und des
Denkens, des Phänomens und des dem Phänomen objektiv zu Grunde
Liegenden, des Syllogismus und der Induktion etc. für die Durch-
führung des ſkeptiſchen Grundgedankens Gebrauch machen. Hier-
durch trat zwar noch deutlicher die Schranke heraus, welche durch
den griechiſchen Geiſt dem Skepticismus gezogen war; innerhalb
der Vorausſetzungen der alten Völker erwies ſich nun aber dieſer
Skepticismus als ganz unwiderleglich. Er blieb Sieger auf dem
weiten Kampfplatz der griechiſchen Metaphyſik.

Der Skepticismus.

Welche ſind die Grenzen in der Beweisführung der
ſkeptiſchen Schulen des Alterthums? Lieſt man, was übrig ge-
blieben iſt, ſo wird es nur verſtändlich, wenn wir von unſerem
höheren Standpunkt aus den Skeptikern zu Hilfe kommen, wenn
wir gleichſam heraufheben, was nach ihrem Standort unter ihrem
Horizont lag. So zeigt ſich, wie dieſelben ſolchergeſtalt nur beſtritten
und aufgelöſt haben, was ihr Geſichtskreis enthielt: die objek-
tive Welterkenntniß
des Alterthums, daß jedoch dieſe ihre
Kritik Anderes gar nicht erblickte — und darum nicht traf. Das
Nicht-Wiſſen des Socrates war mit dem Affekt des Wahrheitsge-
fühls der Zukunft zugewandt. Pyrrho ſteht in ſich gekehrt an der
Grenze des Griechenthums. Er ſtellt ruhig feſt, daß alle Meta-
phyſik, alle poſitive Erkenntniß, welche der griechiſche Geiſt zu er-
blicken vermocht hatte, objektive Wahrheit nicht iſt. Die Zeit ſtand
bevor, in welcher von einem höheren Standort aus Anderes geſehen

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[297/0320] Die griechiſche Wiſſenſchaft tritt in das Stadium d. Einzelwiſſenſchaften. Inzwiſchen hatte ſeit dem Zeitalter der Sophiſten der Skepti- cismus fortbeſtanden. Unmittelbar nach Ariſtoteles tritt Pyrrho auf, der Begründer der ſkeptiſchen Schule. Die Debatten dieſer Schule, insbeſondere aber der neueren, ſkeptiſch gerichteten Akademie erfüllen das 3. und 2. Jahrhundert vor Chriſtus und erhalten ihren Abſchluß in der Zuſammenfaſſung der Beweisführungen gegen alle Wiſſenſchaften durch Sextus Empiricus. Sie zeigen, verglichen mit dem Relativismus des Protagoras, einen Fortſchritt des ſkep- tiſchen Gedankens, indem ſie auf Grund der nun geſchaffenen Logik und Metaphyſik von den Unterſchieden der Wahrnehmung und des Denkens, des Phänomens und des dem Phänomen objektiv zu Grunde Liegenden, des Syllogismus und der Induktion etc. für die Durch- führung des ſkeptiſchen Grundgedankens Gebrauch machen. Hier- durch trat zwar noch deutlicher die Schranke heraus, welche durch den griechiſchen Geiſt dem Skepticismus gezogen war; innerhalb der Vorausſetzungen der alten Völker erwies ſich nun aber dieſer Skepticismus als ganz unwiderleglich. Er blieb Sieger auf dem weiten Kampfplatz der griechiſchen Metaphyſik. Der Skepticismus. Welche ſind die Grenzen in der Beweisführung der ſkeptiſchen Schulen des Alterthums? Lieſt man, was übrig ge- blieben iſt, ſo wird es nur verſtändlich, wenn wir von unſerem höheren Standpunkt aus den Skeptikern zu Hilfe kommen, wenn wir gleichſam heraufheben, was nach ihrem Standort unter ihrem Horizont lag. So zeigt ſich, wie dieſelben ſolchergeſtalt nur beſtritten und aufgelöſt haben, was ihr Geſichtskreis enthielt: die objek- tive Welterkenntniß des Alterthums, daß jedoch dieſe ihre Kritik Anderes gar nicht erblickte — und darum nicht traf. Das Nicht-Wiſſen des Socrates war mit dem Affekt des Wahrheitsge- fühls der Zukunft zugewandt. Pyrrho ſteht in ſich gekehrt an der Grenze des Griechenthums. Er ſtellt ruhig feſt, daß alle Meta- phyſik, alle poſitive Erkenntniß, welche der griechiſche Geiſt zu er- blicken vermocht hatte, objektive Wahrheit nicht iſt. Die Zeit ſtand bevor, in welcher von einem höheren Standort aus Anderes geſehen

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 297. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/320>, abgerufen am 26.04.2024.