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Droste-Hülshoff, Annette von: Letzte Gaben. Nachgelassene Blätter. Hrsg. v. Levin Schücking. Hannover, 1860.

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Carpe diem?

Pflücke die Stunde, wär' sie noch so blaß,
Ein falbes Moos, vom Dunst des Moores naß,
Ein farblos Blümchen, flatternd auf der Haide;
Ach, einst von Allem träumt die Seele süß,
Von Allem, was, ihr eigen, sie verließ,
Und mancher Seufzer gilt entflohnem Leide.
In Alles senkt sie Blutestropfen ein,
Legt Perlen aus dem heiligtiefsten Schrein,
Bewußtlos, selbst in grauverhängte Stunden;
Steigt oft ein unklar Sehnen dir empor,
Du schaust vielleicht wie durch Gewölkes Flor
Nach Tagen, längst vergessen, doch empfunden.
Wer, der an seine Kinderzeit gedenkt,
Als die Vokabeln ihn in Noth versenkt,
Wer möcht' nicht wieder Kind sein und sich grauen?
Ja, der Gefangne, der die Wand beschrieb,
Fühlt er nach Jahren Glückes nicht den Trieb,
Die alten Sprüche einmal noch zu schauen?
Carpe diem?

Pflücke die Stunde, wär’ ſie noch ſo blaß,
Ein falbes Moos, vom Dunſt des Moores naß,
Ein farblos Blümchen, flatternd auf der Haide;
Ach, einſt von Allem träumt die Seele ſüß,
Von Allem, was, ihr eigen, ſie verließ,
Und mancher Seufzer gilt entflohnem Leide.
In Alles ſenkt ſie Blutestropfen ein,
Legt Perlen aus dem heiligtiefſten Schrein,
Bewußtlos, ſelbſt in grauverhängte Stunden;
Steigt oft ein unklar Sehnen dir empor,
Du ſchauſt vielleicht wie durch Gewölkes Flor
Nach Tagen, längſt vergeſſen, doch empfunden.
Wer, der an ſeine Kinderzeit gedenkt,
Als die Vokabeln ihn in Noth verſenkt,
Wer möcht’ nicht wieder Kind ſein und ſich grauen?
Ja, der Gefangne, der die Wand beſchrieb,
Fühlt er nach Jahren Glückes nicht den Trieb,
Die alten Sprüche einmal noch zu ſchauen?
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[5/0021] Carpe diem? Pflücke die Stunde, wär’ ſie noch ſo blaß, Ein falbes Moos, vom Dunſt des Moores naß, Ein farblos Blümchen, flatternd auf der Haide; Ach, einſt von Allem träumt die Seele ſüß, Von Allem, was, ihr eigen, ſie verließ, Und mancher Seufzer gilt entflohnem Leide. In Alles ſenkt ſie Blutestropfen ein, Legt Perlen aus dem heiligtiefſten Schrein, Bewußtlos, ſelbſt in grauverhängte Stunden; Steigt oft ein unklar Sehnen dir empor, Du ſchauſt vielleicht wie durch Gewölkes Flor Nach Tagen, längſt vergeſſen, doch empfunden. Wer, der an ſeine Kinderzeit gedenkt, Als die Vokabeln ihn in Noth verſenkt, Wer möcht’ nicht wieder Kind ſein und ſich grauen? Ja, der Gefangne, der die Wand beſchrieb, Fühlt er nach Jahren Glückes nicht den Trieb, Die alten Sprüche einmal noch zu ſchauen?

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Zitationshilfe: Droste-Hülshoff, Annette von: Letzte Gaben. Nachgelassene Blätter. Hrsg. v. Levin Schücking. Hannover, 1860, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droste_letzte_1860/21>, abgerufen am 26.04.2024.