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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Lotte reichst mir das Werkzeug, du, von deren
Händen ich den Tod zu empfangen wünschte,
und ach nun empfange. O ich habe meinen Jun-
gen ausgefragt, du zittertest, als du sie ihm reich-
test, du sagtest kein Lebe wohl; -- Weh! Weh! --
kein Lebe wohl! -- Solltest du dein Herz für
mich verschlossen haben, um des Augenbliks wil-
len der mich auf ewig an dich befestigte. Lotte,
kein Jahrtausend vermag den Eindruk auszulö-
schen! Und ich fühl's, du kannst den nicht hassen,
der so für dich glüht.



Nach Tische hieß er den Knaben alles vol-
lends einpakken, zerriß viele Papiere, ging aus,
und brachte noch kleine Schulden in Ordnung.
Er kam wieder nach Hause, ging wieder aus, vor's
Thor ohngeachtet des Regens, in den gräflichen
Garten, schweifte weiter in der Gegend umher,
und kam mit einbrechender Nacht zurük und schrieb.



Wilhelm, ich habe zum leztenmale Feld und
Wald und den Himmel gesehn. Leb wohl
auch du! Liebe Mutter, verzeiht mir! Tröste sie,
Wilhelm. Gott segne euch! Meine Sachen sind

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O 5



Lotte reichſt mir das Werkzeug, du, von deren
Haͤnden ich den Tod zu empfangen wuͤnſchte,
und ach nun empfange. O ich habe meinen Jun-
gen ausgefragt, du zitterteſt, als du ſie ihm reich-
teſt, du ſagteſt kein Lebe wohl; — Weh! Weh! —
kein Lebe wohl! — Sollteſt du dein Herz fuͤr
mich verſchloſſen haben, um des Augenbliks wil-
len der mich auf ewig an dich befeſtigte. Lotte,
kein Jahrtauſend vermag den Eindruk auszuloͤ-
ſchen! Und ich fuͤhl’s, du kannſt den nicht haſſen,
der ſo fuͤr dich gluͤht.



Nach Tiſche hieß er den Knaben alles vol-
lends einpakken, zerriß viele Papiere, ging aus,
und brachte noch kleine Schulden in Ordnung.
Er kam wieder nach Hauſe, ging wieder aus, vor’s
Thor ohngeachtet des Regens, in den graͤflichen
Garten, ſchweifte weiter in der Gegend umher,
und kam mit einbrechender Nacht zuruͤk und ſchrieb.



Wilhelm, ich habe zum leztenmale Feld und
Wald und den Himmel geſehn. Leb wohl
auch du! Liebe Mutter, verzeiht mir! Troͤſte ſie,
Wilhelm. Gott ſegne euch! Meine Sachen ſind

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[217/0105] Lotte reichſt mir das Werkzeug, du, von deren Haͤnden ich den Tod zu empfangen wuͤnſchte, und ach nun empfange. O ich habe meinen Jun- gen ausgefragt, du zitterteſt, als du ſie ihm reich- teſt, du ſagteſt kein Lebe wohl; — Weh! Weh! — kein Lebe wohl! — Sollteſt du dein Herz fuͤr mich verſchloſſen haben, um des Augenbliks wil- len der mich auf ewig an dich befeſtigte. Lotte, kein Jahrtauſend vermag den Eindruk auszuloͤ- ſchen! Und ich fuͤhl’s, du kannſt den nicht haſſen, der ſo fuͤr dich gluͤht. Nach Tiſche hieß er den Knaben alles vol- lends einpakken, zerriß viele Papiere, ging aus, und brachte noch kleine Schulden in Ordnung. Er kam wieder nach Hauſe, ging wieder aus, vor’s Thor ohngeachtet des Regens, in den graͤflichen Garten, ſchweifte weiter in der Gegend umher, und kam mit einbrechender Nacht zuruͤk und ſchrieb. Wilhelm, ich habe zum leztenmale Feld und Wald und den Himmel geſehn. Leb wohl auch du! Liebe Mutter, verzeiht mir! Troͤſte ſie, Wilhelm. Gott ſegne euch! Meine Sachen ſind all O 5

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 217. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/105>, abgerufen am 26.04.2024.