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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von poetischen Perioden und ihren Zierrathen.
unsrigen anbringen wollte: welches vielen, die mehr Franzö-
sisch als Deutsch können, sehr leicht zu entfahren pflegt.
Z. E. wenn ich schreibe: die Augen über das Feld ausspa-
zieren lassen;
oder: einem Frauenzimmer den Hof ma-
chen,
weil die Franzosen sprechen, promener ses yeux sur
les champs,
und faire sa Cour a une Dame. Das sind
barbarismi in unsrer Mundart, die kein Mensch versteht,
der nicht Französisch kan. Schlüßlich, ein Poet muß über-
all die Regel des Boileau beobachten:

Sur tout, qu'en vos ecrits la Langue reveree,
Dans vos plus grands exces, vous soit toujours sacree.
En vain vous me frappez d'un son melodieux;
Si le terme est impropre, ou le tour vicieux.
Mon esprit n'admet point un pompeux Barbarisme,
Ni d'un vers empoule l'orgueilleux Solecisme,
Sans la Langue, en un mot, l'Auteur le plus divin
Est toujours, quoyqu'il fasse, un mechant Ecrivain.


Das zehnte Capitel.
Von den Figuren in der Poesie.

DJe Abhandlung von den Figuren gehöret eigentlich
vor die Meister der Redekunst, und ich könnte also
meine Leser dahin verweisen, oder gar zum voraus
setzen, daß sie sich darum schon bekümmert haben würden.
Allein vors erste hat die gebundne Schreibart eben so viel
Recht dazu, als die ungebundne, ja noch wohl ein grösse-
res. Sie hat sich nicht nur dieser Zierrathe bedienet, ehe
diese noch erfunden worden: sondern pfleget sich auch damit
weit häufiger zu putzen als dieselbe. Hernach kan man
nicht allezeit zum Grunde setzen, daß die Liebhaber der
Dichtkunst sich vorher in der Redekunst festgesetzt haben
sollten. Dieser Gattung Lesern zu gefallen, habe ich mein
Buch lieber vollständiger machen, als sie auf einen ander-
weitigen Unterricht in diesem Stücke verweisen wollen.

Einige
R

Von poetiſchen Perioden und ihren Zierrathen.
unſrigen anbringen wollte: welches vielen, die mehr Franzoͤ-
ſiſch als Deutſch koͤnnen, ſehr leicht zu entfahren pflegt.
Z. E. wenn ich ſchreibe: die Augen uͤber das Feld ausſpa-
zieren laſſen;
oder: einem Frauenzimmer den Hof ma-
chen,
weil die Franzoſen ſprechen, promener ſes yeux ſur
les champs,
und faire ſa Cour à une Dame. Das ſind
barbariſmi in unſrer Mundart, die kein Menſch verſteht,
der nicht Franzoͤſiſch kan. Schluͤßlich, ein Poet muß uͤber-
all die Regel des Boileau beobachten:

Sur tout, qu’en vos ecrits la Langue reverée,
Dans vos plus grands excés, vous ſoit toujours ſacrée.
En vain vous me frappez d’un ſon melodieux;
Si le terme eſt impropre, ou le tour vicieux.
Mon eſprit n’admet point un pompeux Barbariſme,
Ni d’un vers empoulé l’orgueilleux Soleciſme,
Sans la Langue, en un mot, l’Auteur le plus divin
Eſt toujours, quoyqu’il faſſe, un méchant Ecrivain.


Das zehnte Capitel.
Von den Figuren in der Poeſie.

DJe Abhandlung von den Figuren gehoͤret eigentlich
vor die Meiſter der Redekunſt, und ich koͤnnte alſo
meine Leſer dahin verweiſen, oder gar zum voraus
ſetzen, daß ſie ſich darum ſchon bekuͤmmert haben wuͤrden.
Allein vors erſte hat die gebundne Schreibart eben ſo viel
Recht dazu, als die ungebundne, ja noch wohl ein groͤſſe-
res. Sie hat ſich nicht nur dieſer Zierrathe bedienet, ehe
dieſe noch erfunden worden: ſondern pfleget ſich auch damit
weit haͤufiger zu putzen als dieſelbe. Hernach kan man
nicht allezeit zum Grunde ſetzen, daß die Liebhaber der
Dichtkunſt ſich vorher in der Redekunſt feſtgeſetzt haben
ſollten. Dieſer Gattung Leſern zu gefallen, habe ich mein
Buch lieber vollſtaͤndiger machen, als ſie auf einen ander-
weitigen Unterricht in dieſem Stuͤcke verweiſen wollen.

Einige
R
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[257/0285] Von poetiſchen Perioden und ihren Zierrathen. unſrigen anbringen wollte: welches vielen, die mehr Franzoͤ- ſiſch als Deutſch koͤnnen, ſehr leicht zu entfahren pflegt. Z. E. wenn ich ſchreibe: die Augen uͤber das Feld ausſpa- zieren laſſen; oder: einem Frauenzimmer den Hof ma- chen, weil die Franzoſen ſprechen, promener ſes yeux ſur les champs, und faire ſa Cour à une Dame. Das ſind barbariſmi in unſrer Mundart, die kein Menſch verſteht, der nicht Franzoͤſiſch kan. Schluͤßlich, ein Poet muß uͤber- all die Regel des Boileau beobachten: Sur tout, qu’en vos ecrits la Langue reverée, Dans vos plus grands excés, vous ſoit toujours ſacrée. En vain vous me frappez d’un ſon melodieux; Si le terme eſt impropre, ou le tour vicieux. Mon eſprit n’admet point un pompeux Barbariſme, Ni d’un vers empoulé l’orgueilleux Soleciſme, Sans la Langue, en un mot, l’Auteur le plus divin Eſt toujours, quoyqu’il faſſe, un méchant Ecrivain. Das zehnte Capitel. Von den Figuren in der Poeſie. DJe Abhandlung von den Figuren gehoͤret eigentlich vor die Meiſter der Redekunſt, und ich koͤnnte alſo meine Leſer dahin verweiſen, oder gar zum voraus ſetzen, daß ſie ſich darum ſchon bekuͤmmert haben wuͤrden. Allein vors erſte hat die gebundne Schreibart eben ſo viel Recht dazu, als die ungebundne, ja noch wohl ein groͤſſe- res. Sie hat ſich nicht nur dieſer Zierrathe bedienet, ehe dieſe noch erfunden worden: ſondern pfleget ſich auch damit weit haͤufiger zu putzen als dieſelbe. Hernach kan man nicht allezeit zum Grunde ſetzen, daß die Liebhaber der Dichtkunſt ſich vorher in der Redekunſt feſtgeſetzt haben ſollten. Dieſer Gattung Leſern zu gefallen, habe ich mein Buch lieber vollſtaͤndiger machen, als ſie auf einen ander- weitigen Unterricht in dieſem Stuͤcke verweiſen wollen. Einige R

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/285>, abgerufen am 26.04.2024.