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Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 2, Abt. 1. Leipzig, 1891.

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Siebzehnte Vorlesung.
müssiges Beginnen. Will man ergänzend eingreifen, so sehe man von
Ausdrucksformen in der Wortsprache, sofern vollends sie doch nicht legi-
tim, nicht durch den Usus sanktionirt sind, ab, man achte nur auf den
Sachverhalt selber und halte sich an dessen angemessenste Ausdrucks-
weisen, wie sie nur eine rationelle Zeichensprache schaffen mag.

Zu denken gibt es, dass jene vier urteilsformen sich mit den fünf
möglichen Elementarbeziehungen keineswegs decken! Die Urteile sind
doch gerade bestimmt, Beziehungen zwischen Begriffen zu konstatiren
-- nach ihrem Inhalte und demzufolge auch nach ihrem Umfange.

Gegenüber der durch die Wortsprache geforderten Einteilung der
Urteile in die bekannten vier Klassen haben aber die fünf Elementar-
beziehungen, in welchen, wie gezeigt, hinsichtlich ihres Umfangs Be-
griffe überhaupt zu einander stehen können, lange nicht die gebührende
Beachtung gefunden, und finden dieselbe in Logikbüchern der ältern
Schule auch heute nicht.

Die Wahrnehmung dieser 5 Beziehungen ist vielmehr von des
Aristoteles Zeiten (anno minus 384 ..--322 unsrer Zeitrechnung) bis
zum Anfang des gegenwärtigen Jahrhunderts (+ 1816) gänzlich unter-
blieben, wo sie, soviel bekannt, zuerst Gergonne1 ausdrücklich an
das Licht zog.

Dass eine Sprache, welche nur diese letztern Beziehungen wieder-
gäbe oder auszudrücken fähig wäre, viel exakter, präziser oder aus-
drucksvoller sein müsste, als unsre heutigen Wortsprachen, ist die
Grundidee von dieses Mathematikers "Dialectique rationelle".

Auf dieselben 5 Beziehungen kommt 1877, wie es scheint unabhängig
von Gergonne, auch Fr. A. Lange1; Twesten1 stellte ihrer viere auf;
ausserdem finde ich Gergonne's Arbeit nur bei Venn1 citirt.

Inwiefern diese Idee zutreffend ist, werden wir in § 48 sehen.

Jedenfalls gibt sich in dem Umstande, dass gedachte Beziehungen
so lange übersehen wurden, eine übermässige Abhängigkeit, Unfreiheit
der Denklehre von dem Gängelbande der in die Fesseln verbaler
Ausdrucksformen gebannten Ausdrucksgewohnheiten zu erkennen.

§ 35. Analytische Definition der Grund- und Elementarbeziehungen
und ihre Zurückführung auf einander.

Wir werden nunmehr mit den vorhin eingeführten Aussagen a1
bis g und a bis d, sowie mit deren Negationen a bis g1 etc., welche
selbst wieder als Aussagen zu bezeichnen sind, zu rechnen bekommen
nach den Regeln des Aussagenkalkuls, wozu in Erinnerung gebracht
werden mag, dass sooft das Symbol irgend einer von diesen Aussagen
in Rechnung gesetzt wird, dasselbe zu deuten ist als die Klasse der

Siebzehnte Vorlesung.
müssiges Beginnen. Will man ergänzend eingreifen, so sehe man von
Ausdrucksformen in der Wortsprache, sofern vollends sie doch nicht legi-
tim, nicht durch den Usus sanktionirt sind, ab, man achte nur auf den
Sachverhalt selber und halte sich an dessen angemessenste Ausdrucks-
weisen, wie sie nur eine rationelle Zeichensprache schaffen mag.

Zu denken gibt es, dass jene vier urteilsformen sich mit den fünf
möglichen Elementarbeziehungen keineswegs decken! Die Urteile sind
doch gerade bestimmt, Beziehungen zwischen Begriffen zu konstatiren
— nach ihrem Inhalte und demzufolge auch nach ihrem Umfange.

Gegenüber der durch die Wortsprache geforderten Einteilung der
Urteile in die bekannten vier Klassen haben aber die fünf Elementar-
beziehungen, in welchen, wie gezeigt, hinsichtlich ihres Umfangs Be-
griffe überhaupt zu einander stehen können, lange nicht die gebührende
Beachtung gefunden, und finden dieselbe in Logikbüchern der ältern
Schule auch heute nicht.

Die Wahrnehmung dieser 5 Beziehungen ist vielmehr von des
Aristoteles Zeiten (anno minus 384 ‥—322 unsrer Zeitrechnung) bis
zum Anfang des gegenwärtigen Jahrhunderts (+ 1816) gänzlich unter-
blieben, wo sie, soviel bekannt, zuerst Gergonne1 ausdrücklich an
das Licht zog.

Dass eine Sprache, welche nur diese letztern Beziehungen wieder-
gäbe oder auszudrücken fähig wäre, viel exakter, präziser oder aus-
drucksvoller sein müsste, als unsre heutigen Wortsprachen, ist die
Grundidee von dieses Mathematikers „Dialectique rationelle“.

Auf dieselben 5 Beziehungen kommt 1877, wie es scheint unabhängig
von Gergonne, auch Fr. A. Lange1; Twesten1 stellte ihrer viere auf;
ausserdem finde ich Gergonne’s Arbeit nur bei Venn1 citirt.

Inwiefern diese Idee zutreffend ist, werden wir in § 48 sehen.

Jedenfalls gibt sich in dem Umstande, dass gedachte Beziehungen
so lange übersehen wurden, eine übermässige Abhängigkeit, Unfreiheit
der Denklehre von dem Gängelbande der in die Fesseln verbaler
Ausdrucksformen gebannten Ausdrucksgewohnheiten zu erkennen.

§ 35. Analytische Definition der Grund- und Elementarbeziehungen
und ihre Zurückführung auf einander.

Wir werden nunmehr mit den vorhin eingeführten Aussagen a1
bis g und α bis δ, sowie mit deren Negationen a bis g1 etc., welche
selbst wieder als Aussagen zu bezeichnen sind, zu rechnen bekommen
nach den Regeln des Aussagenkalkuls, wozu in Erinnerung gebracht
werden mag, dass sooft das Symbol irgend einer von diesen Aussagen
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[106/0130] Siebzehnte Vorlesung. müssiges Beginnen. Will man ergänzend eingreifen, so sehe man von Ausdrucksformen in der Wortsprache, sofern vollends sie doch nicht legi- tim, nicht durch den Usus sanktionirt sind, ab, man achte nur auf den Sachverhalt selber und halte sich an dessen angemessenste Ausdrucks- weisen, wie sie nur eine rationelle Zeichensprache schaffen mag. Zu denken gibt es, dass jene vier urteilsformen sich mit den fünf möglichen Elementarbeziehungen keineswegs decken! Die Urteile sind doch gerade bestimmt, Beziehungen zwischen Begriffen zu konstatiren — nach ihrem Inhalte und demzufolge auch nach ihrem Umfange. Gegenüber der durch die Wortsprache geforderten Einteilung der Urteile in die bekannten vier Klassen haben aber die fünf Elementar- beziehungen, in welchen, wie gezeigt, hinsichtlich ihres Umfangs Be- griffe überhaupt zu einander stehen können, lange nicht die gebührende Beachtung gefunden, und finden dieselbe in Logikbüchern der ältern Schule auch heute nicht. Die Wahrnehmung dieser 5 Beziehungen ist vielmehr von des Aristoteles Zeiten (anno minus 384 ‥—322 unsrer Zeitrechnung) bis zum Anfang des gegenwärtigen Jahrhunderts (+ 1816) gänzlich unter- blieben, wo sie, soviel bekannt, zuerst Gergonne1 ausdrücklich an das Licht zog. Dass eine Sprache, welche nur diese letztern Beziehungen wieder- gäbe oder auszudrücken fähig wäre, viel exakter, präziser oder aus- drucksvoller sein müsste, als unsre heutigen Wortsprachen, ist die Grundidee von dieses Mathematikers „Dialectique rationelle“. Auf dieselben 5 Beziehungen kommt 1877, wie es scheint unabhängig von Gergonne, auch Fr. A. Lange1; Twesten1 stellte ihrer viere auf; ausserdem finde ich Gergonne’s Arbeit nur bei Venn1 citirt. Inwiefern diese Idee zutreffend ist, werden wir in § 48 sehen. Jedenfalls gibt sich in dem Umstande, dass gedachte Beziehungen so lange übersehen wurden, eine übermässige Abhängigkeit, Unfreiheit der Denklehre von dem Gängelbande der in die Fesseln verbaler Ausdrucksformen gebannten Ausdrucksgewohnheiten zu erkennen. § 35. Analytische Definition der Grund- und Elementarbeziehungen und ihre Zurückführung auf einander. Wir werden nunmehr mit den vorhin eingeführten Aussagen a1 bis g und α bis δ, sowie mit deren Negationen a bis g1 etc., welche selbst wieder als Aussagen zu bezeichnen sind, zu rechnen bekommen nach den Regeln des Aussagenkalkuls, wozu in Erinnerung gebracht werden mag, dass sooft das Symbol irgend einer von diesen Aussagen in Rechnung gesetzt wird, dasselbe zu deuten ist als die Klasse der

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Zitationshilfe: Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 2, Abt. 1. Leipzig, 1891, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schroeder_logik0201_1891/130>, abgerufen am 26.04.2024.