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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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es aber nur eine auf kurze Zeit sich hervorthuende Erscheinung ist und
die Decke der Verstellungskunst bald wieder vorgezogen wird, so mengt
sich zugleich ein Bedauern darunter, welches eine Rührung der Zärtlichkeit
ist" u. s. w. "Eine Kunst, naiv zu seyn, ist daher ein Widerspruch" u. s. w.

§. 160.

Tritt man aus dieser Sphäre der blos formellen Selbstdarstellung der1
Persönlichkeit in die Gebiete ihrer wirklichen Thätigkeit ein, so zeigt sich der
Kreis des Komischen dadurch ungleich weiter, als der des Erhabenen, daß nicht
nur der Wille (vergl. §. 103), sondern auch der denkende Geist durch Ein-
mischung des Zufälligen und Unbewußten, das seinen Zusammenhang trübt,
komisch wird. Der denkende Geist nämlich, wo er den Zusammenhang seines
Denkens in richtiger Folge festhält, ist an sich zu unsinnlich für das ästhetische
Gebiet; die Störungen aber, die aus jener Einmischung fließen, bringen, wenn
sie nur anschaulicher Art sind, mit der allgemeinen ästhetischen Bedingung auch
die zum Komischen erforderliche Brechung hinzu. Alle Formen des Denkens2
von der bloßen Wahrnehmung der Außenwelt, sofern sie zwar auch dem Handeln
dient, doch je im vorliegenden Acte nicht unmittelbar in dieses übergeht, bis
zur reinsten Abstraction treten hier auf und gerade je höher und reiner die
Form, desto stärker die Komik, weil die Brechung desto stärker ist. Einge-
wurzelter Irrthum vollendet das komische Subject; dagegen kann völlige Störung
nicht leicht komisch seyn, weil jene Brechung fehlt.

1. Ruge führt zwischen Beispielen der Unsittlichkeit, deren Reich er
mit Recht dem Komischen vorzüglich vindicirt, auch Beispiele der Zer-
streutheit auf, reine Irrthümer u. dgl. Weil er aber beide nicht genug
unterscheidet, so erscheint er auch von dieser Seite zu sehr ethisirend. Das
ganze Reich des theoretischen Geistes, an sich aus dem in §. 103 ge-
nannten Grunde nicht erhaben zu nennen, wird durch die Brechung des
Irrthums eine dem Komischen verfallende Erhabenheit. Dies ist nun
allerdings näher zu bestimmen. Ein Irrthum ist nämlich allerdings, wie
J. Paul (a. a. O. §. 28) sagt, an und für sich nicht lächerlich, so
wenig, als eine Unwissenheit. J. Paul fehlt aber darin, daß er die
Anschaulichkeit, die hinzutreten muß, nur in einer Handlung sucht, die
den Irrthum zur Erscheinung bringen soll; er geräth dadurch sogleich in
den praktischen Geist und verliert eine ganze, große Sphäre der Komik.
Das Denken braucht nicht in Handlung überzugehen, aber die Störung

es aber nur eine auf kurze Zeit ſich hervorthuende Erſcheinung iſt und
die Decke der Verſtellungskunſt bald wieder vorgezogen wird, ſo mengt
ſich zugleich ein Bedauern darunter, welches eine Rührung der Zärtlichkeit
iſt“ u. ſ. w. „Eine Kunſt, naiv zu ſeyn, iſt daher ein Widerſpruch“ u. ſ. w.

§. 160.

Tritt man aus dieſer Sphäre der blos formellen Selbſtdarſtellung der1
Perſönlichkeit in die Gebiete ihrer wirklichen Thätigkeit ein, ſo zeigt ſich der
Kreis des Komiſchen dadurch ungleich weiter, als der des Erhabenen, daß nicht
nur der Wille (vergl. §. 103), ſondern auch der denkende Geiſt durch Ein-
miſchung des Zufälligen und Unbewußten, das ſeinen Zuſammenhang trübt,
komiſch wird. Der denkende Geiſt nämlich, wo er den Zuſammenhang ſeines
Denkens in richtiger Folge feſthält, iſt an ſich zu unſinnlich für das äſthetiſche
Gebiet; die Störungen aber, die aus jener Einmiſchung fließen, bringen, wenn
ſie nur anſchaulicher Art ſind, mit der allgemeinen äſthetiſchen Bedingung auch
die zum Komiſchen erforderliche Brechung hinzu. Alle Formen des Denkens2
von der bloßen Wahrnehmung der Außenwelt, ſofern ſie zwar auch dem Handeln
dient, doch je im vorliegenden Acte nicht unmittelbar in dieſes übergeht, bis
zur reinſten Abſtraction treten hier auf und gerade je höher und reiner die
Form, deſto ſtärker die Komik, weil die Brechung deſto ſtärker iſt. Einge-
wurzelter Irrthum vollendet das komiſche Subject; dagegen kann völlige Störung
nicht leicht komiſch ſeyn, weil jene Brechung fehlt.

1. Ruge führt zwiſchen Beiſpielen der Unſittlichkeit, deren Reich er
mit Recht dem Komiſchen vorzüglich vindicirt, auch Beiſpiele der Zer-
ſtreutheit auf, reine Irrthümer u. dgl. Weil er aber beide nicht genug
unterſcheidet, ſo erſcheint er auch von dieſer Seite zu ſehr ethiſirend. Das
ganze Reich des theoretiſchen Geiſtes, an ſich aus dem in §. 103 ge-
nannten Grunde nicht erhaben zu nennen, wird durch die Brechung des
Irrthums eine dem Komiſchen verfallende Erhabenheit. Dies iſt nun
allerdings näher zu beſtimmen. Ein Irrthum iſt nämlich allerdings, wie
J. Paul (a. a. O. §. 28) ſagt, an und für ſich nicht lächerlich, ſo
wenig, als eine Unwiſſenheit. J. Paul fehlt aber darin, daß er die
Anſchaulichkeit, die hinzutreten muß, nur in einer Handlung ſucht, die
den Irrthum zur Erſcheinung bringen ſoll; er geräth dadurch ſogleich in
den praktiſchen Geiſt und verliert eine ganze, große Sphäre der Komik.
Das Denken braucht nicht in Handlung überzugehen, aber die Störung

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[361/0375] es aber nur eine auf kurze Zeit ſich hervorthuende Erſcheinung iſt und die Decke der Verſtellungskunſt bald wieder vorgezogen wird, ſo mengt ſich zugleich ein Bedauern darunter, welches eine Rührung der Zärtlichkeit iſt“ u. ſ. w. „Eine Kunſt, naiv zu ſeyn, iſt daher ein Widerſpruch“ u. ſ. w. §. 160. Tritt man aus dieſer Sphäre der blos formellen Selbſtdarſtellung der Perſönlichkeit in die Gebiete ihrer wirklichen Thätigkeit ein, ſo zeigt ſich der Kreis des Komiſchen dadurch ungleich weiter, als der des Erhabenen, daß nicht nur der Wille (vergl. §. 103), ſondern auch der denkende Geiſt durch Ein- miſchung des Zufälligen und Unbewußten, das ſeinen Zuſammenhang trübt, komiſch wird. Der denkende Geiſt nämlich, wo er den Zuſammenhang ſeines Denkens in richtiger Folge feſthält, iſt an ſich zu unſinnlich für das äſthetiſche Gebiet; die Störungen aber, die aus jener Einmiſchung fließen, bringen, wenn ſie nur anſchaulicher Art ſind, mit der allgemeinen äſthetiſchen Bedingung auch die zum Komiſchen erforderliche Brechung hinzu. Alle Formen des Denkens von der bloßen Wahrnehmung der Außenwelt, ſofern ſie zwar auch dem Handeln dient, doch je im vorliegenden Acte nicht unmittelbar in dieſes übergeht, bis zur reinſten Abſtraction treten hier auf und gerade je höher und reiner die Form, deſto ſtärker die Komik, weil die Brechung deſto ſtärker iſt. Einge- wurzelter Irrthum vollendet das komiſche Subject; dagegen kann völlige Störung nicht leicht komiſch ſeyn, weil jene Brechung fehlt. 1. Ruge führt zwiſchen Beiſpielen der Unſittlichkeit, deren Reich er mit Recht dem Komiſchen vorzüglich vindicirt, auch Beiſpiele der Zer- ſtreutheit auf, reine Irrthümer u. dgl. Weil er aber beide nicht genug unterſcheidet, ſo erſcheint er auch von dieſer Seite zu ſehr ethiſirend. Das ganze Reich des theoretiſchen Geiſtes, an ſich aus dem in §. 103 ge- nannten Grunde nicht erhaben zu nennen, wird durch die Brechung des Irrthums eine dem Komiſchen verfallende Erhabenheit. Dies iſt nun allerdings näher zu beſtimmen. Ein Irrthum iſt nämlich allerdings, wie J. Paul (a. a. O. §. 28) ſagt, an und für ſich nicht lächerlich, ſo wenig, als eine Unwiſſenheit. J. Paul fehlt aber darin, daß er die Anſchaulichkeit, die hinzutreten muß, nur in einer Handlung ſucht, die den Irrthum zur Erſcheinung bringen ſoll; er geräth dadurch ſogleich in den praktiſchen Geiſt und verliert eine ganze, große Sphäre der Komik. Das Denken braucht nicht in Handlung überzugehen, aber die Störung

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 361. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/375>, abgerufen am 19.03.2024.