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Allgemeine Zeitung. Nr. 150. Augsburg, 29. Mai 1840.

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damit das Kind auch einen Namen hätte; einige Fregatten und bewaffnete Dampfschiffe wären hinlänglich, um Rechte zu behaupten, die sich auf gegenseitige Verträge und getreue Ausführung der übernommenen Verbindlichkeiten gründen sollen.

Ueber Wissenschaft und Litteratur in Deutschland,mit Bezug auf französische Aburtheilung über dieselbe.

Nachdem ich früher über die Art, wie die deutsche Wissenschaft und ihre Pfleger von den zu uns gekommenen besonders jüngeren Franzosen beurtheilt werden, hierauf von der öffentlichen Thätigkeit und ihrem Geiste unter uns in ähnlicher Beziehung auf Veranlassung des Hrn. Marmier geschrieben habe, lag mir noch ob, über eben desselben geringschätzige Behandlung dessen, was sich als schriftstellerische und wissenschaftliche Thätigkeit unter uns und als Geist unserer Litteratur ihm darstellt, mich des Weitern zu erklären und die frivole Nichtigkeit seines Angriffs auch auf diesem Punkt zu zeigen. Dieser Schluß meiner Bekämpfung ist bis jetzt verspätet, darum aber nicht überflüssig geworden. Die Allgemeine Zeitung hat indeß zwar einige interessante Aufsätze über denselben Gegenstand geliefert, aber sie betreffen nur das Verhältniß unserer schönen Litteratur zu jenen Angriffen des französischen Gegners, und seine Angriffe verbreiteten sich auf diesem Gebiete über unsere ganze schriftstellerische und wissenschaftliche Thätigkeit, die im Gegensatz des französischen Urtheils zu beleuchten der Allg. Zeitung um so mehr obliegt, da sie durch Uebersetzung und Aufnahme des französischen Artikels die Sache bei ihrem Publicum ganz eigentlich anhängig gemacht hat, dieses aber nicht nur das gebildete Deutschland, sondern man darf sagen das gebildete Europa ist.

Hr. Marmier hat es zwar hauptsächlich auf das unter uns abgesehen, was die Franzosen lettres, litterature oder belles lettres nennen, d. i. auf Poesie, Geschichte und Philosophie, und findet uns auf diesem Gebiete nach dem Tode von Goethe in die kimmerische Nacht zurückgesunken, mit welcher für die Franzosen die deutsche Litteratur vor Erscheinung des Werkes der Frau v. Stael de l'Allemagne bedeckt war. Es ist, obwohl die Asche der Koryphäen unserer Litteratur kaum erkaltet ist und mehrere ruhmvolle Namen der großen Epoche, wie A. W. Schlegel, Tieck, Schelling noch unter uns gefunden werden, gleichwohl auf diesem Gebiete, wie Hr. M. weiß, mit uns so gut wie vorbei, wir sind in schreibselige Ohnmacht versunken, und genöthigt, beim Nachbar d. i. bei Hrn. Marmier und seinen Landsleuten und bei ihren "Ideen" und Leistungen auf Unterstützung und so zu sagen auf den Bettel auszugehen; indeß geht er neben dem, was er von der Litteratur oder den "belles lettres" unter uns weiß oder zu wissen glaubt, auch gegen unsere Wissenschaft. Die Ideen werden uns aus Frankreich zugeschleudert, die deutsche Spinne bemächtigt sich ihrer, man weiß nicht, ob um sie auszusaugen oder auszuspinnen, oder die deutsche Penelope webt sie und trennt sie wieder auf, um sie wieder zu weben. Oder sollten jene Ideen, die er mit seinen Landsleuten zu uns herüber fulgurirt, nur litterarische und belletristische seyn? Gewiß nicht! Es ist das ganze gelehrte Deutschland, das er unter sein Teleskop oder Mikroskop bringt. Es ist die gelehrte Mandarinenrepublik, die er im Auge, mit der er es zu thun hat. Ihre Producte erscheinen ihm als Ephemeren, die ein Tag der großen Leipziger Messe zeitigt, und der andere durch Nachwuchs vertilgt, abgerechnet einige, die über dem Meere der Vergessenheit in dem Schiffbruche der übrigen oben auf schwimmen apparent rari nantes in gurgite vasto.

Alles aber, was er über Litteratur und Wissenschaft unter uns zu sagen weiß, wird in seiner Vorstellung von dem Phantom einer maaßlosen, endlosen und zwecklosen Polygraphie getragen, von der er wie von einem sich immer erneuernden Aussatze den deutschen Nationalkörper in einer Weise behaftet sieht, daß er den für die übrigen Functionen des Lebens und Gedeihens bestimmten Vorrath von Saft und Kraft für sich allein in Anspruch und Beschlag nimmt, und in Deutschland eben nichts weiter geschieht, als daß man Fäden von endloser Länge zieht, daß man die neun-und-neunzigmal aufgewickelte und abgesponnene Idee zum hundertstenmal aufwickelt und abhaspelt, oder daß nach einer andern Metapher die schon so vielmal umgeschmolzenen Ideen immer von neuem in den Schmelztiegel geworfen werden.

Hr. Marmier, dem es ganz und gar nicht an Willen fehlt, das Wahre zu finden und so weit er es als ein in Vorurtheil und Eitelkeit verschränkter Franzose vermag, anzuerkennen, bemerkt zwar, daß die deutschen Schriftsteller den deutschen Buchhändler bereichern, die französischen aber den ihrigen arm machen; aber darum kommt er noch nicht zu der richtigen Ansicht über das Schriftstellerwesen bei uns, die ihm sofort ganz nahe lag. Er findet von dem Betriebe der geschriebenen Werke, der so viele Buchhandlungen bei Leben und Gedeihen erhält, nicht den Schluß auf die Beschaffenheit des litterarischen Bedürfnisses der Nation, und der Satz mochte ihm zu trivial erscheinen, daß bei uns so viel und im Ganzen nicht mehr gedruckt wird, als man braucht. Gleichwohl liegt in ihm unsere Rechtfertigung. Gesetzt ein Volk von 50 Millionen wäre in solcher Wohlhabenheit, daß es bis in seine untersten Classen herab sich jährlich neu kleidete und neu möbliren könnte, so würden die Fabricanten und Kaufleute desselben dadurch aufgefordert seyn, ihre Fabrication und Speculation in den durch jenes Bedürfniß gebotenen Artikeln so zu steigern, daß die Nachfrage durch inländische Erzeugnisse und vermehrte Einfuhr gedeckt würde. Diese Industriellen würden darum wegen ihrer Regsamkeit und Energie gelobt werden; und wie kommt man dazu die Schriftsteller zu tadeln, daß sie in analogem Falle sich in gleicher Weise thätig und den Anforderungen des Publicums gewachsen zeigen - ganz abgesehen von den höhern hier wirkenden Kräften, und die Sache allein von dem industriellen Standpunkt betrachtet, der der Auffassung dieses Fremden vielleicht näher liegt? Hr. Marmier erkennt das Bedürfniß an. Er weiß, daß in Deutschland nicht wie in dem eingebildeten Land der civilisation europeenne ganze Gemeinden und Gegenden in barbarischer Unwissenheit leben, sondern daß hier Jedermann (?) lesen kann und fast Jedermann liest. Er ist nicht unbekannt mit dem gesteigerten wissenschaftlichen und litterarischen Bedürfniß unserer mittlern Classen, ihrer gründlichen gelehrten und industriellen Erziehung, er weiß oder soll wenigstens wissen, daß jeder Ort mit einer gelehrten Schule unter uns ein Mittelpunkt freier wissenschaftlicher Thätigkeit ist, oder bei der freien Haltung unserer Studien wenigstens seyn kann, daß über ihnen die großen Lehrcorporationen der reichausgestatteten und freigehaltenen Universitäten das Land mit ihrem Einflusse durchdringen, daß der Stand der Beamten, der Geistlichen, der Aerzte neben dem der Lehrer selbst bis in die bescheidenen Grade herab aus Männern akademischer Studien und oft gründlicher wissenschaftlicher Bildung besteht. Er ahnet wenigstens den Ernst, die Regsamkeit und Beharrlichkeit, mit welcher auf diesem großen und unermeßlichen Gebiete der Intelligenz der deutsche Geist sich bewegt,

damit das Kind auch einen Namen hätte; einige Fregatten und bewaffnete Dampfschiffe wären hinlänglich, um Rechte zu behaupten, die sich auf gegenseitige Verträge und getreue Ausführung der übernommenen Verbindlichkeiten gründen sollen.

Ueber Wissenschaft und Litteratur in Deutschland,mit Bezug auf französische Aburtheilung über dieselbe.

Nachdem ich früher über die Art, wie die deutsche Wissenschaft und ihre Pfleger von den zu uns gekommenen besonders jüngeren Franzosen beurtheilt werden, hierauf von der öffentlichen Thätigkeit und ihrem Geiste unter uns in ähnlicher Beziehung auf Veranlassung des Hrn. Marmier geschrieben habe, lag mir noch ob, über eben desselben geringschätzige Behandlung dessen, was sich als schriftstellerische und wissenschaftliche Thätigkeit unter uns und als Geist unserer Litteratur ihm darstellt, mich des Weitern zu erklären und die frivole Nichtigkeit seines Angriffs auch auf diesem Punkt zu zeigen. Dieser Schluß meiner Bekämpfung ist bis jetzt verspätet, darum aber nicht überflüssig geworden. Die Allgemeine Zeitung hat indeß zwar einige interessante Aufsätze über denselben Gegenstand geliefert, aber sie betreffen nur das Verhältniß unserer schönen Litteratur zu jenen Angriffen des französischen Gegners, und seine Angriffe verbreiteten sich auf diesem Gebiete über unsere ganze schriftstellerische und wissenschaftliche Thätigkeit, die im Gegensatz des französischen Urtheils zu beleuchten der Allg. Zeitung um so mehr obliegt, da sie durch Uebersetzung und Aufnahme des französischen Artikels die Sache bei ihrem Publicum ganz eigentlich anhängig gemacht hat, dieses aber nicht nur das gebildete Deutschland, sondern man darf sagen das gebildete Europa ist.

Hr. Marmier hat es zwar hauptsächlich auf das unter uns abgesehen, was die Franzosen lettres, littérature oder belles lettres nennen, d. i. auf Poesie, Geschichte und Philosophie, und findet uns auf diesem Gebiete nach dem Tode von Goethe in die kimmerische Nacht zurückgesunken, mit welcher für die Franzosen die deutsche Litteratur vor Erscheinung des Werkes der Frau v. Stael de l'Allemagne bedeckt war. Es ist, obwohl die Asche der Koryphäen unserer Litteratur kaum erkaltet ist und mehrere ruhmvolle Namen der großen Epoche, wie A. W. Schlegel, Tieck, Schelling noch unter uns gefunden werden, gleichwohl auf diesem Gebiete, wie Hr. M. weiß, mit uns so gut wie vorbei, wir sind in schreibselige Ohnmacht versunken, und genöthigt, beim Nachbar d. i. bei Hrn. Marmier und seinen Landsleuten und bei ihren „Ideen“ und Leistungen auf Unterstützung und so zu sagen auf den Bettel auszugehen; indeß geht er neben dem, was er von der Litteratur oder den „belles lettres“ unter uns weiß oder zu wissen glaubt, auch gegen unsere Wissenschaft. Die Ideen werden uns aus Frankreich zugeschleudert, die deutsche Spinne bemächtigt sich ihrer, man weiß nicht, ob um sie auszusaugen oder auszuspinnen, oder die deutsche Penelope webt sie und trennt sie wieder auf, um sie wieder zu weben. Oder sollten jene Ideen, die er mit seinen Landsleuten zu uns herüber fulgurirt, nur litterarische und belletristische seyn? Gewiß nicht! Es ist das ganze gelehrte Deutschland, das er unter sein Teleskop oder Mikroskop bringt. Es ist die gelehrte Mandarinenrepublik, die er im Auge, mit der er es zu thun hat. Ihre Producte erscheinen ihm als Ephemeren, die ein Tag der großen Leipziger Messe zeitigt, und der andere durch Nachwuchs vertilgt, abgerechnet einige, die über dem Meere der Vergessenheit in dem Schiffbruche der übrigen oben auf schwimmen apparent rari nantes in gurgite vasto.

Alles aber, was er über Litteratur und Wissenschaft unter uns zu sagen weiß, wird in seiner Vorstellung von dem Phantom einer maaßlosen, endlosen und zwecklosen Polygraphie getragen, von der er wie von einem sich immer erneuernden Aussatze den deutschen Nationalkörper in einer Weise behaftet sieht, daß er den für die übrigen Functionen des Lebens und Gedeihens bestimmten Vorrath von Saft und Kraft für sich allein in Anspruch und Beschlag nimmt, und in Deutschland eben nichts weiter geschieht, als daß man Fäden von endloser Länge zieht, daß man die neun-und-neunzigmal aufgewickelte und abgesponnene Idee zum hundertstenmal aufwickelt und abhaspelt, oder daß nach einer andern Metapher die schon so vielmal umgeschmolzenen Ideen immer von neuem in den Schmelztiegel geworfen werden.

Hr. Marmier, dem es ganz und gar nicht an Willen fehlt, das Wahre zu finden und so weit er es als ein in Vorurtheil und Eitelkeit verschränkter Franzose vermag, anzuerkennen, bemerkt zwar, daß die deutschen Schriftsteller den deutschen Buchhändler bereichern, die französischen aber den ihrigen arm machen; aber darum kommt er noch nicht zu der richtigen Ansicht über das Schriftstellerwesen bei uns, die ihm sofort ganz nahe lag. Er findet von dem Betriebe der geschriebenen Werke, der so viele Buchhandlungen bei Leben und Gedeihen erhält, nicht den Schluß auf die Beschaffenheit des litterarischen Bedürfnisses der Nation, und der Satz mochte ihm zu trivial erscheinen, daß bei uns so viel und im Ganzen nicht mehr gedruckt wird, als man braucht. Gleichwohl liegt in ihm unsere Rechtfertigung. Gesetzt ein Volk von 50 Millionen wäre in solcher Wohlhabenheit, daß es bis in seine untersten Classen herab sich jährlich neu kleidete und neu möbliren könnte, so würden die Fabricanten und Kaufleute desselben dadurch aufgefordert seyn, ihre Fabrication und Speculation in den durch jenes Bedürfniß gebotenen Artikeln so zu steigern, daß die Nachfrage durch inländische Erzeugnisse und vermehrte Einfuhr gedeckt würde. Diese Industriellen würden darum wegen ihrer Regsamkeit und Energie gelobt werden; und wie kommt man dazu die Schriftsteller zu tadeln, daß sie in analogem Falle sich in gleicher Weise thätig und den Anforderungen des Publicums gewachsen zeigen – ganz abgesehen von den höhern hier wirkenden Kräften, und die Sache allein von dem industriellen Standpunkt betrachtet, der der Auffassung dieses Fremden vielleicht näher liegt? Hr. Marmier erkennt das Bedürfniß an. Er weiß, daß in Deutschland nicht wie in dem eingebildeten Land der civilisation européenne ganze Gemeinden und Gegenden in barbarischer Unwissenheit leben, sondern daß hier Jedermann (?) lesen kann und fast Jedermann liest. Er ist nicht unbekannt mit dem gesteigerten wissenschaftlichen und litterarischen Bedürfniß unserer mittlern Classen, ihrer gründlichen gelehrten und industriellen Erziehung, er weiß oder soll wenigstens wissen, daß jeder Ort mit einer gelehrten Schule unter uns ein Mittelpunkt freier wissenschaftlicher Thätigkeit ist, oder bei der freien Haltung unserer Studien wenigstens seyn kann, daß über ihnen die großen Lehrcorporationen der reichausgestatteten und freigehaltenen Universitäten das Land mit ihrem Einflusse durchdringen, daß der Stand der Beamten, der Geistlichen, der Aerzte neben dem der Lehrer selbst bis in die bescheidenen Grade herab aus Männern akademischer Studien und oft gründlicher wissenschaftlicher Bildung besteht. Er ahnet wenigstens den Ernst, die Regsamkeit und Beharrlichkeit, mit welcher auf diesem großen und unermeßlichen Gebiete der Intelligenz der deutsche Geist sich bewegt,

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[1195/0011] damit das Kind auch einen Namen hätte; einige Fregatten und bewaffnete Dampfschiffe wären hinlänglich, um Rechte zu behaupten, die sich auf gegenseitige Verträge und getreue Ausführung der übernommenen Verbindlichkeiten gründen sollen. Ueber Wissenschaft und Litteratur in Deutschland,mit Bezug auf französische Aburtheilung über dieselbe. Nachdem ich früher über die Art, wie die deutsche Wissenschaft und ihre Pfleger von den zu uns gekommenen besonders jüngeren Franzosen beurtheilt werden, hierauf von der öffentlichen Thätigkeit und ihrem Geiste unter uns in ähnlicher Beziehung auf Veranlassung des Hrn. Marmier geschrieben habe, lag mir noch ob, über eben desselben geringschätzige Behandlung dessen, was sich als schriftstellerische und wissenschaftliche Thätigkeit unter uns und als Geist unserer Litteratur ihm darstellt, mich des Weitern zu erklären und die frivole Nichtigkeit seines Angriffs auch auf diesem Punkt zu zeigen. Dieser Schluß meiner Bekämpfung ist bis jetzt verspätet, darum aber nicht überflüssig geworden. Die Allgemeine Zeitung hat indeß zwar einige interessante Aufsätze über denselben Gegenstand geliefert, aber sie betreffen nur das Verhältniß unserer schönen Litteratur zu jenen Angriffen des französischen Gegners, und seine Angriffe verbreiteten sich auf diesem Gebiete über unsere ganze schriftstellerische und wissenschaftliche Thätigkeit, die im Gegensatz des französischen Urtheils zu beleuchten der Allg. Zeitung um so mehr obliegt, da sie durch Uebersetzung und Aufnahme des französischen Artikels die Sache bei ihrem Publicum ganz eigentlich anhängig gemacht hat, dieses aber nicht nur das gebildete Deutschland, sondern man darf sagen das gebildete Europa ist. Hr. Marmier hat es zwar hauptsächlich auf das unter uns abgesehen, was die Franzosen lettres, littérature oder belles lettres nennen, d. i. auf Poesie, Geschichte und Philosophie, und findet uns auf diesem Gebiete nach dem Tode von Goethe in die kimmerische Nacht zurückgesunken, mit welcher für die Franzosen die deutsche Litteratur vor Erscheinung des Werkes der Frau v. Stael de l'Allemagne bedeckt war. Es ist, obwohl die Asche der Koryphäen unserer Litteratur kaum erkaltet ist und mehrere ruhmvolle Namen der großen Epoche, wie A. W. Schlegel, Tieck, Schelling noch unter uns gefunden werden, gleichwohl auf diesem Gebiete, wie Hr. M. weiß, mit uns so gut wie vorbei, wir sind in schreibselige Ohnmacht versunken, und genöthigt, beim Nachbar d. i. bei Hrn. Marmier und seinen Landsleuten und bei ihren „Ideen“ und Leistungen auf Unterstützung und so zu sagen auf den Bettel auszugehen; indeß geht er neben dem, was er von der Litteratur oder den „belles lettres“ unter uns weiß oder zu wissen glaubt, auch gegen unsere Wissenschaft. Die Ideen werden uns aus Frankreich zugeschleudert, die deutsche Spinne bemächtigt sich ihrer, man weiß nicht, ob um sie auszusaugen oder auszuspinnen, oder die deutsche Penelope webt sie und trennt sie wieder auf, um sie wieder zu weben. Oder sollten jene Ideen, die er mit seinen Landsleuten zu uns herüber fulgurirt, nur litterarische und belletristische seyn? Gewiß nicht! Es ist das ganze gelehrte Deutschland, das er unter sein Teleskop oder Mikroskop bringt. Es ist die gelehrte Mandarinenrepublik, die er im Auge, mit der er es zu thun hat. Ihre Producte erscheinen ihm als Ephemeren, die ein Tag der großen Leipziger Messe zeitigt, und der andere durch Nachwuchs vertilgt, abgerechnet einige, die über dem Meere der Vergessenheit in dem Schiffbruche der übrigen oben auf schwimmen apparent rari nantes in gurgite vasto. Alles aber, was er über Litteratur und Wissenschaft unter uns zu sagen weiß, wird in seiner Vorstellung von dem Phantom einer maaßlosen, endlosen und zwecklosen Polygraphie getragen, von der er wie von einem sich immer erneuernden Aussatze den deutschen Nationalkörper in einer Weise behaftet sieht, daß er den für die übrigen Functionen des Lebens und Gedeihens bestimmten Vorrath von Saft und Kraft für sich allein in Anspruch und Beschlag nimmt, und in Deutschland eben nichts weiter geschieht, als daß man Fäden von endloser Länge zieht, daß man die neun-und-neunzigmal aufgewickelte und abgesponnene Idee zum hundertstenmal aufwickelt und abhaspelt, oder daß nach einer andern Metapher die schon so vielmal umgeschmolzenen Ideen immer von neuem in den Schmelztiegel geworfen werden. Hr. Marmier, dem es ganz und gar nicht an Willen fehlt, das Wahre zu finden und so weit er es als ein in Vorurtheil und Eitelkeit verschränkter Franzose vermag, anzuerkennen, bemerkt zwar, daß die deutschen Schriftsteller den deutschen Buchhändler bereichern, die französischen aber den ihrigen arm machen; aber darum kommt er noch nicht zu der richtigen Ansicht über das Schriftstellerwesen bei uns, die ihm sofort ganz nahe lag. Er findet von dem Betriebe der geschriebenen Werke, der so viele Buchhandlungen bei Leben und Gedeihen erhält, nicht den Schluß auf die Beschaffenheit des litterarischen Bedürfnisses der Nation, und der Satz mochte ihm zu trivial erscheinen, daß bei uns so viel und im Ganzen nicht mehr gedruckt wird, als man braucht. Gleichwohl liegt in ihm unsere Rechtfertigung. Gesetzt ein Volk von 50 Millionen wäre in solcher Wohlhabenheit, daß es bis in seine untersten Classen herab sich jährlich neu kleidete und neu möbliren könnte, so würden die Fabricanten und Kaufleute desselben dadurch aufgefordert seyn, ihre Fabrication und Speculation in den durch jenes Bedürfniß gebotenen Artikeln so zu steigern, daß die Nachfrage durch inländische Erzeugnisse und vermehrte Einfuhr gedeckt würde. Diese Industriellen würden darum wegen ihrer Regsamkeit und Energie gelobt werden; und wie kommt man dazu die Schriftsteller zu tadeln, daß sie in analogem Falle sich in gleicher Weise thätig und den Anforderungen des Publicums gewachsen zeigen – ganz abgesehen von den höhern hier wirkenden Kräften, und die Sache allein von dem industriellen Standpunkt betrachtet, der der Auffassung dieses Fremden vielleicht näher liegt? Hr. Marmier erkennt das Bedürfniß an. Er weiß, daß in Deutschland nicht wie in dem eingebildeten Land der civilisation européenne ganze Gemeinden und Gegenden in barbarischer Unwissenheit leben, sondern daß hier Jedermann (?) lesen kann und fast Jedermann liest. Er ist nicht unbekannt mit dem gesteigerten wissenschaftlichen und litterarischen Bedürfniß unserer mittlern Classen, ihrer gründlichen gelehrten und industriellen Erziehung, er weiß oder soll wenigstens wissen, daß jeder Ort mit einer gelehrten Schule unter uns ein Mittelpunkt freier wissenschaftlicher Thätigkeit ist, oder bei der freien Haltung unserer Studien wenigstens seyn kann, daß über ihnen die großen Lehrcorporationen der reichausgestatteten und freigehaltenen Universitäten das Land mit ihrem Einflusse durchdringen, daß der Stand der Beamten, der Geistlichen, der Aerzte neben dem der Lehrer selbst bis in die bescheidenen Grade herab aus Männern akademischer Studien und oft gründlicher wissenschaftlicher Bildung besteht. Er ahnet wenigstens den Ernst, die Regsamkeit und Beharrlichkeit, mit welcher auf diesem großen und unermeßlichen Gebiete der Intelligenz der deutsche Geist sich bewegt,

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Deutsches Textarchiv: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-06-28T11:37:15Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-06-28T11:37:15Z)

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 150. Augsburg, 29. Mai 1840, S. 1195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_150_18400529/11>, abgerufen am 27.04.2024.