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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 4. Leipzig, 1862.

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Erkenntniß wird nicht getrübt, wenn man auch die Unvollkommen-
heit der Auffassung und Redaction aller jener, ohnehin immer nur
noch vereinzelt gegebenen und empfangenen Sprachtypen und die
mehr oder minder große Gezwungenheit der Offenbarung mit in
Anschlag bringt, welche bei dem Mangel an genügender Sprach-
kenntniß der Redactoren durchgehends der vollkommenen richtigen
Auffassung und kritischen Sichtung entbehrte und bei der rücksichts-
losen Gewalt gegen die Sprache überhaupt und bei der gesuchten
frivolen Entstellung der einzelnen Gaunerausdrücke den guten
Glauben der Concipienten stets auf harte Proben stellte. Je mehr
solche, dem Geist und Zweck des Gaunerthums entsprechende My-
stificationen bis tief in die neueste Zeit hineinreichen, desto um-
sichtiger und besonnener muß die Kritik alle diese Momente neben
der grammatischen Forschung ins Auge fassen, weil gerade hinter
dem ehrlichen Schein vollkommener Offenbarung das hohnlachende
Gaunerthum sich am liebsten versteckt.

Seit der Rotwelschen Grammatik von 1755, besonders aber
seit Pfister, sieht man nun eine nicht geringe Anzahl von Gauner-
wörterbüchern zum Vorschein kommen, deren Verfasser ihre kahle
Vocabulatur zunächst aus der Rotwelschen Grammatik und später
aus Pfister, Grolman und Bischoff geschöpft haben. Jn diesen
Wörterbüchern findet sich, ohne alle linguistische Bemerkung, ohne
alle kritische Sichtung und ohne alle Angabe der Quellen, mit
alten bekannten Druckfehlern und mit neuen unbekannten Zusam-
mensetzungen, auf eigene Hand eine Menge wunderbarer Wort-
formen construirt, bei deren erstem Anblick man in ein so rathlos
verwundertes Erstaunen geräth wie bei der mikroskopischen Ent-
deckung ganz ungeahnter misgestalteter Jnfusorien. Nimmt man
aber die trügerischen Linsen vor der Wortmasse hinweg, wie "aus
eigener praktischer Erfahrung", oder "nach Criminalacten", oder
"nach Polizeiacten", oder "nach den bewährtesten Quellen", und
sieht man mit dem geraden, festen, durch unmittelbare Beobach-
tung des Volks und seiner Sprache und der Verbrecher und ihrer
Sprache geschärften Blick in diese Wortmassen hinein, so erkennt
man auf der einen Seite die kahle unredliche Nachschreiberei, auf

Erkenntniß wird nicht getrübt, wenn man auch die Unvollkommen-
heit der Auffaſſung und Redaction aller jener, ohnehin immer nur
noch vereinzelt gegebenen und empfangenen Sprachtypen und die
mehr oder minder große Gezwungenheit der Offenbarung mit in
Anſchlag bringt, welche bei dem Mangel an genügender Sprach-
kenntniß der Redactoren durchgehends der vollkommenen richtigen
Auffaſſung und kritiſchen Sichtung entbehrte und bei der rückſichts-
loſen Gewalt gegen die Sprache überhaupt und bei der geſuchten
frivolen Entſtellung der einzelnen Gaunerausdrücke den guten
Glauben der Concipienten ſtets auf harte Proben ſtellte. Je mehr
ſolche, dem Geiſt und Zweck des Gaunerthums entſprechende My-
ſtificationen bis tief in die neueſte Zeit hineinreichen, deſto um-
ſichtiger und beſonnener muß die Kritik alle dieſe Momente neben
der grammatiſchen Forſchung ins Auge faſſen, weil gerade hinter
dem ehrlichen Schein vollkommener Offenbarung das hohnlachende
Gaunerthum ſich am liebſten verſteckt.

Seit der Rotwelſchen Grammatik von 1755, beſonders aber
ſeit Pfiſter, ſieht man nun eine nicht geringe Anzahl von Gauner-
wörterbüchern zum Vorſchein kommen, deren Verfaſſer ihre kahle
Vocabulatur zunächſt aus der Rotwelſchen Grammatik und ſpäter
aus Pfiſter, Grolman und Biſchoff geſchöpft haben. Jn dieſen
Wörterbüchern findet ſich, ohne alle linguiſtiſche Bemerkung, ohne
alle kritiſche Sichtung und ohne alle Angabe der Quellen, mit
alten bekannten Druckfehlern und mit neuen unbekannten Zuſam-
menſetzungen, auf eigene Hand eine Menge wunderbarer Wort-
formen conſtruirt, bei deren erſtem Anblick man in ein ſo rathlos
verwundertes Erſtaunen geräth wie bei der mikroſkopiſchen Ent-
deckung ganz ungeahnter misgeſtalteter Jnfuſorien. Nimmt man
aber die trügeriſchen Linſen vor der Wortmaſſe hinweg, wie „aus
eigener praktiſcher Erfahrung“, oder „nach Criminalacten“, oder
„nach Polizeiacten“, oder „nach den bewährteſten Quellen“, und
ſieht man mit dem geraden, feſten, durch unmittelbare Beobach-
tung des Volks und ſeiner Sprache und der Verbrecher und ihrer
Sprache geſchärften Blick in dieſe Wortmaſſen hinein, ſo erkennt
man auf der einen Seite die kahle unredliche Nachſchreiberei, auf

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[268/0280] Erkenntniß wird nicht getrübt, wenn man auch die Unvollkommen- heit der Auffaſſung und Redaction aller jener, ohnehin immer nur noch vereinzelt gegebenen und empfangenen Sprachtypen und die mehr oder minder große Gezwungenheit der Offenbarung mit in Anſchlag bringt, welche bei dem Mangel an genügender Sprach- kenntniß der Redactoren durchgehends der vollkommenen richtigen Auffaſſung und kritiſchen Sichtung entbehrte und bei der rückſichts- loſen Gewalt gegen die Sprache überhaupt und bei der geſuchten frivolen Entſtellung der einzelnen Gaunerausdrücke den guten Glauben der Concipienten ſtets auf harte Proben ſtellte. Je mehr ſolche, dem Geiſt und Zweck des Gaunerthums entſprechende My- ſtificationen bis tief in die neueſte Zeit hineinreichen, deſto um- ſichtiger und beſonnener muß die Kritik alle dieſe Momente neben der grammatiſchen Forſchung ins Auge faſſen, weil gerade hinter dem ehrlichen Schein vollkommener Offenbarung das hohnlachende Gaunerthum ſich am liebſten verſteckt. Seit der Rotwelſchen Grammatik von 1755, beſonders aber ſeit Pfiſter, ſieht man nun eine nicht geringe Anzahl von Gauner- wörterbüchern zum Vorſchein kommen, deren Verfaſſer ihre kahle Vocabulatur zunächſt aus der Rotwelſchen Grammatik und ſpäter aus Pfiſter, Grolman und Biſchoff geſchöpft haben. Jn dieſen Wörterbüchern findet ſich, ohne alle linguiſtiſche Bemerkung, ohne alle kritiſche Sichtung und ohne alle Angabe der Quellen, mit alten bekannten Druckfehlern und mit neuen unbekannten Zuſam- menſetzungen, auf eigene Hand eine Menge wunderbarer Wort- formen conſtruirt, bei deren erſtem Anblick man in ein ſo rathlos verwundertes Erſtaunen geräth wie bei der mikroſkopiſchen Ent- deckung ganz ungeahnter misgeſtalteter Jnfuſorien. Nimmt man aber die trügeriſchen Linſen vor der Wortmaſſe hinweg, wie „aus eigener praktiſcher Erfahrung“, oder „nach Criminalacten“, oder „nach Polizeiacten“, oder „nach den bewährteſten Quellen“, und ſieht man mit dem geraden, feſten, durch unmittelbare Beobach- tung des Volks und ſeiner Sprache und der Verbrecher und ihrer Sprache geſchärften Blick in dieſe Wortmaſſen hinein, ſo erkennt man auf der einen Seite die kahle unredliche Nachſchreiberei, auf

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Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 4. Leipzig, 1862, S. 268. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum04_1862/280>, abgerufen am 29.04.2024.