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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 19. Kriegswesen und Gefolgschaft.
und Treuverhältnis, welches unter den Einrichtungen ihres öffentlichen
Lebens in Lied und Sage die farbigsten und dauerndsten Spuren
zurückgelassen hat.

Die allgemeine Kriegspflicht, wie sie die civitas von allen freien
und wehrhaften Volksgenossen in Anspruch nahm, vermochte dem
kriegerischen Drange der germanischen Jugend nicht zu genügen.
Schon in der Zeit Cäsars ergab sich das Bedürfnis, die überschäumende
militärische Kraft des Volkes durch freiwillig unternommene Heer-
fahrten in die Fremde abzulenken. Einer der Fürsten erbietet sich
in der Landesversammlung als Führer für ein kriegerisches Unter-
nehmen und fordert die thatenlustigsten Männer zu freiwilligem An-
schlusse auf. Die Teilnahme an der Heerfahrt wird in der öffentlichen
Versammlung versprochen; die Menge giebt die Billigung des gefassten
Entschlusses kund, woraus auf ein Widerspruchsrecht der Landes-
gemeinde geschlossen werden darf. Wer trotz des gegebenen Wortes
die Heerfahrt versitzt, gilt gleich einem Verräter und Überläufer für
ehrlos. Das Verhältnis, welches zwischen dem Führer und den
geworbenen Gefährten entsteht, ist nur ein vorübergehendes, es schafft
zwischen ihnen keine dauernde persönliche Verbindung. Mit dem
Ende der Unternehmung ist das freie Vertragsverhältnis gelöst 17. Ob
man es als Gefolgschaft bezeichnen darf, ist ein Wortstreit. Nennt
man es so, dann muss man sich vor Augen halten, dass es eine
Gefolgschaft ohne Hausgenossenschaft zwischen Führer und Ge-
fährten ist.

Einen andern Charakter hat das Gefolgswesen, comitatus, welchem
Tacitus in der Germania eine lebensvolle Darstellung widmet. Sie
wird bestätigt und ergänzt durch jüngere Quellen, namentlich durch
die Denkmäler germanischer Poesie, unter welchen das aus nordischen
Sagen entstandene angelsächsische Heldengedicht "Beovulf" eine
Hauptquelle für das richtige Verständnis des Gefolgswesens ist 18.
Das Merkmal der Gefolgschaft bildet die Aufnahme des Gefolgs-
mannes in die Hausgenossenschaft des Gefolgsherrn. Die Gefolgsleute
speisen und zechen und schlafen in der Halle ihres Herrn. Die Frau
des Gefolgsherrn soll wohl auch dafür sorgen, dass ihnen die zer-

17 De bello gall. VI 23: atque ubi quis ex principibus in concilio dixit, se
ducem fore, qui sequi velint profiteantur, consurgunt ii qui et causam et hominem
probant suumque auxilium pollicentur, atque ab multitudine collaudantur; qui ex
his secuti non sunt, in desertorum ac proditorum numero ducuntur, omniumque
his rerum postea fides derogatur.
18 Scherer, Z f. d. österr. Gymn. 1869 S. 100 ff., und Köhler, Germa-
nische Altertümer im Beowulf, in Bartschs Germania XIII 142 ff.

§ 19. Kriegswesen und Gefolgschaft.
und Treuverhältnis, welches unter den Einrichtungen ihres öffentlichen
Lebens in Lied und Sage die farbigsten und dauerndsten Spuren
zurückgelassen hat.

Die allgemeine Kriegspflicht, wie sie die civitas von allen freien
und wehrhaften Volksgenossen in Anspruch nahm, vermochte dem
kriegerischen Drange der germanischen Jugend nicht zu genügen.
Schon in der Zeit Cäsars ergab sich das Bedürfnis, die überschäumende
militärische Kraft des Volkes durch freiwillig unternommene Heer-
fahrten in die Fremde abzulenken. Einer der Fürsten erbietet sich
in der Landesversammlung als Führer für ein kriegerisches Unter-
nehmen und fordert die thatenlustigsten Männer zu freiwilligem An-
schlusse auf. Die Teilnahme an der Heerfahrt wird in der öffentlichen
Versammlung versprochen; die Menge giebt die Billigung des gefaſsten
Entschlusses kund, woraus auf ein Widerspruchsrecht der Landes-
gemeinde geschlossen werden darf. Wer trotz des gegebenen Wortes
die Heerfahrt versitzt, gilt gleich einem Verräter und Überläufer für
ehrlos. Das Verhältnis, welches zwischen dem Führer und den
geworbenen Gefährten entsteht, ist nur ein vorübergehendes, es schafft
zwischen ihnen keine dauernde persönliche Verbindung. Mit dem
Ende der Unternehmung ist das freie Vertragsverhältnis gelöst 17. Ob
man es als Gefolgschaft bezeichnen darf, ist ein Wortstreit. Nennt
man es so, dann muſs man sich vor Augen halten, daſs es eine
Gefolgschaft ohne Hausgenossenschaft zwischen Führer und Ge-
fährten ist.

Einen andern Charakter hat das Gefolgswesen, comitatus, welchem
Tacitus in der Germania eine lebensvolle Darstellung widmet. Sie
wird bestätigt und ergänzt durch jüngere Quellen, namentlich durch
die Denkmäler germanischer Poesie, unter welchen das aus nordischen
Sagen entstandene angelsächsische Heldengedicht „Beóvulf“ eine
Hauptquelle für das richtige Verständnis des Gefolgswesens ist 18.
Das Merkmal der Gefolgschaft bildet die Aufnahme des Gefolgs-
mannes in die Hausgenossenschaft des Gefolgsherrn. Die Gefolgsleute
speisen und zechen und schlafen in der Halle ihres Herrn. Die Frau
des Gefolgsherrn soll wohl auch dafür sorgen, daſs ihnen die zer-

17 De bello gall. VI 23: atque ubi quis ex principibus in concilio dixit, se
ducem fore, qui sequi velint profiteantur, consurgunt ii qui et causam et hominem
probant suumque auxilium pollicentur, atque ab multitudine collaudantur; qui ex
his secuti non sunt, in desertorum ac proditorum numero ducuntur, omniumque
his rerum postea fides derogatur.
18 Scherer, Z f. d. österr. Gymn. 1869 S. 100 ff., und Köhler, Germa-
nische Altertümer im Beowulf, in Bartschs Germania XIII 142 ff.
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[137/0155] § 19. Kriegswesen und Gefolgschaft. und Treuverhältnis, welches unter den Einrichtungen ihres öffentlichen Lebens in Lied und Sage die farbigsten und dauerndsten Spuren zurückgelassen hat. Die allgemeine Kriegspflicht, wie sie die civitas von allen freien und wehrhaften Volksgenossen in Anspruch nahm, vermochte dem kriegerischen Drange der germanischen Jugend nicht zu genügen. Schon in der Zeit Cäsars ergab sich das Bedürfnis, die überschäumende militärische Kraft des Volkes durch freiwillig unternommene Heer- fahrten in die Fremde abzulenken. Einer der Fürsten erbietet sich in der Landesversammlung als Führer für ein kriegerisches Unter- nehmen und fordert die thatenlustigsten Männer zu freiwilligem An- schlusse auf. Die Teilnahme an der Heerfahrt wird in der öffentlichen Versammlung versprochen; die Menge giebt die Billigung des gefaſsten Entschlusses kund, woraus auf ein Widerspruchsrecht der Landes- gemeinde geschlossen werden darf. Wer trotz des gegebenen Wortes die Heerfahrt versitzt, gilt gleich einem Verräter und Überläufer für ehrlos. Das Verhältnis, welches zwischen dem Führer und den geworbenen Gefährten entsteht, ist nur ein vorübergehendes, es schafft zwischen ihnen keine dauernde persönliche Verbindung. Mit dem Ende der Unternehmung ist das freie Vertragsverhältnis gelöst 17. Ob man es als Gefolgschaft bezeichnen darf, ist ein Wortstreit. Nennt man es so, dann muſs man sich vor Augen halten, daſs es eine Gefolgschaft ohne Hausgenossenschaft zwischen Führer und Ge- fährten ist. Einen andern Charakter hat das Gefolgswesen, comitatus, welchem Tacitus in der Germania eine lebensvolle Darstellung widmet. Sie wird bestätigt und ergänzt durch jüngere Quellen, namentlich durch die Denkmäler germanischer Poesie, unter welchen das aus nordischen Sagen entstandene angelsächsische Heldengedicht „Beóvulf“ eine Hauptquelle für das richtige Verständnis des Gefolgswesens ist 18. Das Merkmal der Gefolgschaft bildet die Aufnahme des Gefolgs- mannes in die Hausgenossenschaft des Gefolgsherrn. Die Gefolgsleute speisen und zechen und schlafen in der Halle ihres Herrn. Die Frau des Gefolgsherrn soll wohl auch dafür sorgen, daſs ihnen die zer- 17 De bello gall. VI 23: atque ubi quis ex principibus in concilio dixit, se ducem fore, qui sequi velint profiteantur, consurgunt ii qui et causam et hominem probant suumque auxilium pollicentur, atque ab multitudine collaudantur; qui ex his secuti non sunt, in desertorum ac proditorum numero ducuntur, omniumque his rerum postea fides derogatur. 18 Scherer, Z f. d. österr. Gymn. 1869 S. 100 ff., und Köhler, Germa- nische Altertümer im Beowulf, in Bartschs Germania XIII 142 ff.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/155>, abgerufen am 27.04.2024.